Eduard Mühle (Hg.): Studien zum Adel im mittelalterlichen Polen (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien; Bd. 25), Wiesbaden: Harrassowitz 2012, VI + 496 S., ISBN 978-3-447-06589-4, EUR 64,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Untersuchungen zu den mittelalterlichen Rittergeschlechtern und Herrschaftseliten des Königreichs Polen gehören zweifellos zu den dynamischsten Forschungsfeldern der polnischen Mediävistik. So kann die polnische Forschung auf eine ganze Fülle von Detailuntersuchungen zurückblicken, was in der deutschen Mediävistik weitgehend unbemerkt geblieben ist. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die letzte Zusammenstellung polnischer Arbeiten zu dem Thema in einer westeuropäischen Sprache vor nahezu 30 Jahren erschienen ist. [1] Dabei ist zu bemerken, dass die polnische Adelsforschung erst nach den politischen Umbrüchen von 1989 ihre eigentliche Blütezeit erreichte, so dass die genannte Zusammenstellung heute nur noch als frühe Momentaufnahme einer sich erst anbahnenden Forschungsdiskussion zu betrachten ist. Umso erfreulicher ist die Initiative von Eduard Mühle, seinerzeit Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Warschau, einen Sammelband mit dreizehn repräsentativen Forschungsbeiträgen führender polnischer Mediävisten zum Adel im mittelalterlichen Polen auch den deutschsprachigen Lesern zugänglich zu machen.
Den Beiträgen geht eine Einführung Mühles voran, in der die Entwicklung und Spezifik der Adelsforschung in der polnischen Historiografie von der Invasions- und Eroberungstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Sippentheorie der Semkowicz-Schule bis hin zur sogenannten "Thorner Schule" der Nachwendezeit skizziert werden. Der Herausgeber teilt die Texte in sechs Themenblöcke ein. Den ersten bildet eine eingehende und ausführliche Synthese zur Entstehung und Entwicklung des polnischen Adels von Tomasz Jurek. Der Verfasser zeichnet die Entwicklung des Adels von der Gefolgschaft der ersten Piasten über die Ausbildung der Ritterschaft im 12. und 13. Jahrhundert bis hin zur Bildung von Wappengemeinschaften, der Abschließung der Ritterschaft zum Adelsstand und dem zunehmenden Antagonismus zwischen dem Hochadel - den späteren Magnaten - und der Ritterschaft im 15. Jahrhundert nach. Im zweiten Block untersuchen die Beiträge von Ambroży Bogucki und Franciszek Dąbrowski Aspekte des sogenannten "Ritterrechts".
Der nächste Block von fünf Texten beschäftigt sich mit der Rolle und Bedeutung der adligen Amtsträger und der politischen Eliten in unterschiedlichen Kontexten des mittelalterlichen Polen. Während Janusz Bieniak die politische Elite des 11. und 12. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit behandelt, widmen sich Agnieszka Teterycz-Puzio und Tomasz Jurek den Eliten an den teilfürstlichen piastischen Höfen im 13. und 14. Jahrhundert am Beispiel der historischen Regionen Kleinpolen, Masowien und Schlesien.
Im vierten Beitrag dieses Themenblocks untersucht Janusz Kurtyka exemplarisch am Beispiel der Wappengemeinschaft Topór die Rolle der einzelnen Familienverbände bei der Vereinigung und Konsolidierung Polens in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und ihre politische Machtbasis. Andrzej Marzec beleuchtet schließlich die politischen Eliten des vereinigten Königreichs Polen unter Władysław Łokietek und Kazimierz III. dem Großen. Dabei plädiert er für den Begriff "Amtsträgerelite" mangels einer überzeugenden Definition des Begriffs "politische Elite" in der polnischen Mediävistik.
Im vierten Themenbereich werden methodische Fragen sowie konkrete Forschungserträge der genealogisch-prosopografischen Methode besprochen (Janusz Bieniak, Jerzy Sperka), während im fünften Block die Beiträge von Teresa Kiersnowska und Janusz Kurtyka die Anwendung dieser Methode darstellen. Während Kurtyka einen Familienverband einheimischen Ursprungs thematisiert (Topór), konzentriert sich Kiersnowska auf einen Familienverband rus'isch-normannischen Ursprungs (Awdaniec) und macht auf die ethnisch heterogene Zusammensetzung der frühpiastischen Gefolgschaft aufmerksam. Der Sammelband wird mit einem Text von Jan Wroniszewski beschlossen, der zugleich den letzten Themenblock bildet. Mit seinem Beitrag soll das genealogisch-prosopografische Paradigma um sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragen erweitert werden. Hier steht die Analyse der Organisationsformen und der Entwicklung des adligen Eigentums am Beispiel der Region Sandomir im Mittelpunkt. Hervorzuheben ist der Vergleich der adligen Grundherrschaft in Polen mit dem Prozess der Territorialisierung im Reich im 12. und 13. Jahrhundert. So weist Wroniszewski darauf hin, dass sich gewisse Elemente der Territorialisierung in Ansätzen auch in Polen finden lassen.
Den Zugriff auf die Texte erleichtern die mit großer Sorgfalt zusammengestellten Register: ein Register der polnischen Adelsgeschlechter und Wappengemeinschaften, ein Ortsregister sowie ein Personenregister. Die ausführlichen bibliografischen Angaben in den Fußnoten geben den neuesten Forschungsstand wieder und helfen dem deutschsprachigen Leser - dank einer Übersetzung der Titel in Klammern - sich im Dickicht der polnischsprachigen Forschungsliteratur zu orientieren.
Ein grundsätzliches Problem des Sammelbandes stellt weniger die zwangsläufig subjektive Textauswahl dar, sondern vielmehr der Schwerpunkt auf der sogenannten genealogisch-prosopografischen Methode, die in nahezu allen Beiträgen dominiert. So kann man hier zweifellos von einer methodischen Verengung sprechen. Da diese jedoch den Forschungsdiskurs an sich betrifft, stellt sie nicht ein Problem des Bandes dar, sondern vielmehr der polnischen Mediävistik. Dadurch ist auch das - von wenigen Ausnahmen abgesehen - Fehlen der vergleichenden Perspektive in Bezug auf die Entwicklung der spätmittelalterlichen politischen Eliten im übrigen Europa zu erklären. Der Herausgeber benennt die methodischen Probleme der polnischen Adelsforschung und lässt im einführenden Text auch Kritiker dieser "überwiegenden Fixierung auf genealogisch-familiengeschichtliche, besitzrechtliche und politikgeschichtliche Fragen" zu Wort kommen, die für einen Paradigmenwechsel in der polnischen Adelsforschung und einen Weg aus der "Sackgasse" plädieren (7-9). Um der methodischen Verengung entgegenzusteuern, verweist Mühle in der Einführung auf einen inzwischen ebenfalls erschienenen Sammelband, der Arbeiten zu den Themen "Adel und kirchliche Stiftungen" sowie "adlige Memoria" umfasst. [2] Mit Rücksicht darauf wurde dieser Themenblock in dem hier besprochenen Band ausgeklammert.
Der Sammelband kann und will die bislang fehlende Monografie zum Adel im mittelalterlichen Polen nicht ersetzen, gibt dem deutschsprachigen Leser aber einen höchst interessanten Einblick in die aktuelle Forschungsdiskussion mit einer repräsentativen Auswahl an hervorragend übersetzten Beiträgen führender polnischer Mediävisten.
Anmerkungen:
[1] Antoni Gąsiorowski (Hg.): The Polish Nobility in the Middle Ages. Anthologies, Wrocław 1984.
[2] Eduard Mühle (Hg.): Monarchische und adlige Sakralstiftungen im mittelalterlichen Polen, Berlin 2013.
Remigius Stachowiak