Wolfgang Schmale / Rolf Felbinger / Günter Kastner / Josef Köstlbauer: Studien zur europäischen Identität im 17. Jahrhundert (= Herausforderungen. Historisch-politische Analysen; Bd. 15), Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2004, 234 S., 26 Abb., ISBN 978-3-89911-021-0, EUR 29,50
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Die Frage, die Wolfgang Schmale an den Anfang dieses Sammelbandes stellt, hat ihre nicht zu bezweifelnde Berechtigung: Ist es möglich, im Hinblick auf das 17. Jahrhundert von einer europäischen Identität zu sprechen? Schmale selbst bleibt in seiner Einleitung, die den Rahmen des Gesamtprojekts umreißt, eher vorsichtig. Wie er unterstreicht, war es bei der Konzeption des Unternehmens - das zunächst in der Erstellung einer Datenbank bestand, die gedruckte Quellen des 17. Jahrhunderts mit europathematischen Bezügen erfasst - nicht geplant, das Problem der Identität in den Vordergrund zu rücken. Vielmehr gewann dieser Aspekt erst in der Beschäftigung mit den Quellen an Bedeutung, weshalb man davon ausgehen darf, dass er den historischen Texten nicht künstlich im Sinne einer nachholenden Identitätsstiftung übergestülpt wurde. Schmale betont daher auch, "dass sich der vorliegende Band eher als ein weiteres vorsichtiges Herantasten an die These von einer europäischen Identität im 17. Jahrhundert und nicht als deren Beweis" versteht (19).
Welche Hinweise geben die einzelnen Beiträge zur Beantwortung der Frage nach einer möglichen europäischen Identität im 17. Jahrhundert? Wie Rolf Felbinger in seinem Beitrag verdeutlicht, ist das üblicherweise gezeichnete Bild des europäischen 17. Jahrhunderts als eines Zeitraums, in dem sich wachsende Staatswesen in einem kriegerischen Dauerkonflikt gegenüberstanden und in protonationalistischer Manier bereits die Grundlagen für die großen Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts legten, nur eine Seite der Medaille. In Auseinandersetzung mit der im Rahmen des Datenbankprojekts gesammelten Quellenliteratur verdeutlicht er, dass im 17. Jahrhundert auch immer noch Ideen einer christlichen Einheit oder einer "monarchia universalis" verhandelt wurden, wie sie zuletzt ernsthaft von Kaiser Karl V. angestrebt worden waren. Vor allem durch die immer wieder beschworene und auch immer wieder aktuelle "Türkengefahr" erhielten entsprechende Ideen Auftrieb. Konkret analysiert Felbinger Europavorstellungen anhand des Dramas "Europe. Comedie Heroique", das in den Jahren 1638 bis 1642 von Jean Desmarets de Saint-Sorlin im Auftrag Kardinal Richelieus verfasst wurde. Es verwundert daher kaum, dass dieses Stück die Universalmonarchie Frankreichs über Europa recht unverhohlen propagiert. Interessanter und weiter führend erscheint demgegenüber eine von Felbinger vorgestellte Abhandlung, die 1681 in London erschien und der Idee der europäischen Universalmonarchie eine klare Absage erteilte. Stattdessen wurden die Freiheitsliebe sowie die daraus resultierende politische Mitbestimmung als Charakteristika Europas herausgestellt.
Mit einer abgrenzenden Form der Identitätsstiftung befasst sich Josef Köstlbauer in seinem Beitrag über das Verhältnis zwischen Europa und dem Osmanischen Reich. Dass das Thema der osmanischen Bedrohung in Quellen des 17. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt, erscheint angesichts der zahlreichen "Türkenkriege" nur zu verständlich. Köstlbauer zeigt auf, wie dabei die Osmanen zu bedrohlichen "Anderen" wurden und wie im Gegensatz zu deren angeblicher Monstrosität eine europäische Identität ex negativo konstruiert wurde. Auch hier zeigt sich aber im späten 17. Jahrhundert auf medialer Ebene insofern ein Wandel, als nach dem Nachlassen der Bedrohung aus dem "türkischen Erbfeind" schließlich ein harmloser Exot wurde, der in Turquerien oder als Bühnenfigur Eingang in die europäische Kultur fand.
Mit Europavorstellungen und der Europaikonographie in unterschiedlichen Medien beschäftigt sich Wolfgang Schmale in einem eigenen Beitrag. Behandelt werden dabei unter anderem Matthäus Merians Monumentalwerk "Theatrum Europaeum", dessen erster Band 1635 erschien, die Erdteilallegorie auf Europa von Jan van Kessel, verschiedene weitere Bildwerke, die den europäischen Kontinent entweder als Königin darstellten oder in Form des antiken Europa-Mythos fassten, sowie schließlich literarische Formen der Europaikonographie. Hierbei stellt Schmale heraus, dass sich neben recht gängigen Vorstellungen auf bildlicher und textlicher Ebene, die Europa als christliche Republik oder als geographische Einheit konzeptualisieren, auch neue und ungewöhnliche Repräsentationen finden, die geradezu zukunftsweisend waren. So wurde beispielsweise der Mythos um die Entführung Europas durch den in einen Stier verwandelten Göttervater Zeus in der Malerei zuweilen als positives Liebesmotiv dargestellt, womit ein Verweis auf die Überwindung von Zwietracht und Krieg zwischen Europas Nationen gegeben war.
Den Abschluss bildet ein Beitrag von Günter Kastner, der die technischen Aspekte darstellt, welche die Präsentation einer Datenbank zu Europabegriffen und Europavorstellungen im 17. Jahrhundert mit sich bringt. Insgesamt haben wir es hier demnach mit einem Sammelband zu tun, dessen überschaubare Anzahl an Beiträgen sich tatsächlich eng an das übergeordnete Thema hält und nicht, wie das bei vielen anderen Exempeln dieses akademischen Genres der Fall ist, eine nur lose inhaltliche Verbindung untereinander aufweist. Zudem sind die einzelnen Beiträge für sich lesenswert und wissen vor allem durch ihre Detailstudien zu überzeugen. Insgesamt lässt sich das Buch daher fast wie eine Monographie lesen.
Fraglich bleibt am Ende jedoch, ob die Erwartungen des Titels, nämlich europäische Identität zum Thema zu machen, tatsächlich eingelöst werden. Denn einerseits haben wir es - wie auch Wolfgang Schmale (84 f.) hervorhebt - mit einem reinen Elitenphänomen zu tun. Hätte man der Frage der europäischen Identität nicht nur im Sinne eines intellektuellen Konstrukts einer gebildeten Schicht nachgehen wollen, hätte man sicherlich andere Quellen zu Rate ziehen müssen. Ob sich dort Ansätze einer europäischen Identität finden lassen, darf allerdings füglich bezweifelt werden. Dies muss daher auch als Manko der Beiträge benannt werden, dass nämlich der soziale Hintergrund einer Idee von europäischer Identität nicht ausreichend problematisiert wurde. Andererseits ist zu konstatieren, dass die Inhalte, die die Beiträge luzide präsentieren, tatsächlich weniger die Umrisse einer europäischen Identität, vielmehr die unterschiedlichen Varianten von Europaideen, Europavorstellungen und Europaikonographien nachzeichnen. Konsequenterweise wird daher in den Beiträgen selbst das Wort "Identität" wesentlich seltener verwendet als Worte wie "Repräsentation" und entsprechende Synonyme. Nimmt man diesen Band jedoch mit nicht allzu übersteigerten Erwartungen in die Hand, die beispielsweise schon für das 17. Jahrhundert Antworten auf die Frage erwarten lassen, die die Europäische Union in der Gegenwart umtreibt, nämlich wie sich eine tiefer wurzelnde europäische Identität ausbilden lässt, dann lohnt sich die Lektüre allemal.
Achim Landwehr