Arne Karsten: Kleine Geschichte Venedigs, München: C.H.Beck 2008, 272 S., 81 Abb., 4 Karten, ISBN 978-3-406-57640-9, EUR 19,90
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David Rosand: Myths of Venice. The Figuration of State, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2001
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Man weiß nicht, ob man den Verfasser der "Kleinen Geschichte Venedigs" beneiden oder bedauern soll. Fraglos gibt es - gerade für Bewohner des nordalpinen Raums - nur wenige Objekte historischer Beschäftigung, die mit einer höheren Attraktivität aufwarten können. Sich nicht nur mit Venedig zu beschäftigen, sondern dies auch noch in Venedig tun zu können, ruft Reaktionen zwischen Bewunderung und Neid hervor. (Wie um diesen Eindruck zu verstärken, hat sich der Verfasser auf dem Schutzumschlag vor venezianischer Kulisse ablichten lassen.) Doch will man mit dem Autor wirklich tauschen? Die Geschichte Venedigs seit dem Frühmittelalter ist überreich, sie ist auch in einem Maße erforscht worden, dass sich damit problemlos ganze Bibliotheken füllen lassen. Wie will und kann man diesen Reichtum und diese Traditionen in einen schmalen Band mit etwas mehr als 250 Textseiten bannen?
Arne Karsten gelingt es. Sicherlich wird nicht jede Leserin und jeder Leser gänzlich zufrieden gestellt werden können. Fraglos ließen sich zahlreiche Aspekte, Phänomene oder Episoden finden, die keine oder keine ausreichende Erwähnung gefunden haben. Aber im Großen und Ganzen kann man Karsten attestieren, dass ihm mit diesem Buch der schwierige Spagat gelungen ist, fundierte historische und kunsthistorische Ergebnisse zu präsentieren ohne dabei das fraglos avisierte "breitere Publikum" zu verprellen. Es handelt sich um eine Darstellung, die weit mehr liefert als die zuweilen in Überblickswerken zur Geschichte Venedigs versammelten Anekdoten, die im Gegenteil mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln (und Seitenzahlen) einen in weiten Teilen systematischen Einblick in die reiche Historie der Serenissima gewährleistet.
Den Verdacht, bei dieser "Kleinen Geschichte Venedigs" handele es sich um eine weitere unkritische, den allgemeinen Erwartungen entsprechende Kollektion etablierter Mythologeme, setzt Karsten bereits in der Einleitung einen anderen Grundtenor entgegen. Sinnigerweise identifiziert er den Mythos, oder besser: die zahlreichen Mythen, die in und über Venedig im Verlauf zahlreicher Jahrhunderte gesponnen wurden, als das Thema, an dem sich die Darstellung orientiert. Damit ist es ihm zugleich möglich, einen die unterschiedlichen Aspekte verbindenden Rahmen zu schaffen und sich kritisch gegen die bloße Zusammenstellung mythischer Erzählungen zu wenden.
In seinem Aufbau folgt das Buch chronologisch der klassischen Epocheneinteilung, die sich für die Geschichte Venedigs etabliert hat. Das erste Kapitel behandelt die spätantiken und frühmittelalterlichen Anfänge bis zum vierten Kreuzzug von 1204. Danach führt die Darstellung zur Geschichte Venedigs als Handelsgroßmacht bis 1509 und der Schlacht von Agnadello, das dritte Kapitel reicht bis zum Verlust Kretas im Jahr 1669, gefolgt von zwei kürzeren Kapiteln, die sich Venedig bis zur Eroberung durch Napoleon beziehungsweise seiner Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert widmen. Gerade die jüngere Geschichte Venedigs, die sich nicht ohne Weiteres mit Glanz und Gloria vergangener Jahrhunderte in Einklang bringen lässt, wird in anderen Darstellungen häufiger beiseite gelassen. Umso verdienstvoller ist es, dass Karsten auch diesem Kapitel venezianischer Geschichte einige Seiten widmet.
Innerhalb der Abschnitte bemüht sich Karsten weitgehend erfolgreich darum, neben wichtigen Entwicklungen auf der Ereignisebene auch strukturelle Aspekte zu berücksichtigen. So finden sich zu den jeweiligen Epochen Ausführungen zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die ein durchaus differenziertes Bild der Geschichte Venedigs erkennen lassen. Leider reduzieren sich die Anteile dieser strukturellen Ausführungen in der zweiten Hälfte des Buchs zugunsten eines gewissen kunsthistorischen Übergewichts. Phasenweise wird aus der "Kleinen Geschichte Venedigs" eine "Kleine Kunstgeschichte". Auch ist es fraglich, ob dem Kardinalnepotismus - ein spezielles Forschungsgebiet des Verfassers - ein eigener größerer Abschnitt hätte gewidmet werden müssen (136-145). Sicherlich handelt es sich dabei um ein wichtiges Phänomen frühneuzeitlicher Geschichte, das nun aber zum Verständnis Venedigs nicht unbedingt von herausragender Bedeutung ist.
Ansonsten finden alle bedeutsamen Stationen in der Geschichte Venedigs, die für eine erste Orientierung nötig sind, Berücksichtigung. Flankiert werden die Ausführungen durch zahlreiche Abbildungen, die in ihrer Auswahl, Qualität und Einbindung in den Text zu überzeugen wissen. Sie sind also weit mehr als illustratives Beiwerk, sondern Bestandteil der Darstellung. Störend wirkt jedoch, dass die Legenden zu den Bildern die Ausführungen aus dem Fließtext weitgehend wiederholen. Hier hätte man sich zusätzliche und andere Informationen gewünscht.
Es bleibt festzuhalten, dass dieses Buch dem Reisenden nach Venedig durchaus ans Herz gelegt und in die Hand gegeben sei. Er wird damit vieles in Venedig entdecken - und einiges vielleicht sogar anders sehen können.
Achim Landwehr