Volker Ullrich: Napoleon. Eine Biographie, Reinbek: Rowohlt Verlag 2004, 175 S., ISBN 978-3-498-06882-0, EUR 17,90
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Johannes Willms: Napoleon. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2005, 840 S., 36 Abb., 21 Karten, ISBN 978-3-406-52956-6, EUR 34,90
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Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung, München: C.H.Beck 2008
Thomas Schuler: "Wir sind auf einem Vulkan". Napoleon und Bayern, München: C.H.Beck 2015
Margot Hamm / Evamaria Brockhoff / Volker Bräu u.a. (Hgg.): Napoleon und Bayern, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015
Alan Forrest / Karen Hagemann / Jane Rendall (eds.): Soldiers, Citizens and Civilians. Experiences and Perceptions of the Revolutionary and Napoleonic Wars, 1790-1820, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009
Adam Zamoyski: 1812. Napoleons Feldzug in Russland, München: C.H.Beck 2012
"Die Historiker", äußerte Napoleon 1816 in seinem Exil auf Sankt Helena, "mögen noch so viel unterschlagen und verstümmeln, es wird ihnen doch schwer fallen, mich ganz verschwinden zu machen." Wohl kaum eine Prognose des Korsen traf so ins Schwarze wie diese: Auf mehr als 80.000 wird mittlerweile die Zahl der Publikationen geschätzt, die sich mit Napoleon Bonaparte auseinandersetzen. Nun sind zwei neue hinzugekommen: Nach über hundert Jahren haben mit Volker Ullrich und Johannes Willms erstmals wieder deutsche Historiker Napoleon-Biografien vorgelegt - und das auch noch nahezu zeitgleich. Beiden Autoren gemeinsam ist, dass sie dem breiteren Publikum weniger als professionelle Geschichtswissenschaftler, sondern eher durch ihre journalistische Tätigkeit bekannt sind: Volker Ullrich ist Leiter des Ressorts "Politisches Buch" bei der Wochenzeitung "Die Zeit", Johannes Willms war Feuilleton-Chef der "Süddeutschen Zeitung" und ist jetzt als deren Kulturkorrespondent in Paris tätig. Beide haben sich im Übrigen schon einmal beinahe gleichzeitig mit derselben historischen Persönlichkeit beschäftigt, als sie 1997 (Willms) und 1998 (Ullrich) Bismarck-Biografien vorlegten.
Während der Beck-Verlag Willms' Buch mit lautstarkem Werbegetrommel einführte ("Napoleon kommt!") und auf dem Klappentext eine "beeindruckende historiographische Leistung und zugleich ein fulminantes Lektüreerlebnis" verheißt, kam Ullrichs Studie im Vergleich dazu fast lautlos auf den Markt. Das mag auch damit zusammenhängen, dass sich die beiden Biografien in Anlage, Ausrichtung und Zielen deutlich unterscheiden. Willms' über 800 Seiten starkes Werk erhebt laut Verlagsprospekt den Anspruch, "die große", die "umfassende" Napoleon-Biografie zu sein, Ullrichs rund 180 Seiten schmales Bändchen soll gemäß Klappentext "eine Schneise durch das Dickicht der Napoleon-Literatur" schlagen. Auf der einen Seite steht die Ambition, das Leben und Wirken Napoleons umfassend einzufangen und neu zu deuten, auf der anderen das Versprechen, vorliegende Erkenntnisse analytisch zu bündeln und das Wesentliche herauszuarbeiten. Was bieten die beiden Bücher tatsächlich und wie fällt ein Vergleich aus?
Ullrichs Biografie ist knapp, instruktiv und flüssig geschrieben, sie lässt sich problemlos in drei bis vier durchweg angenehmen, wenn auch unspektakulären Lesestunden konsumieren. Das Bändchen richtet sich an historisch interessierte Laien und an nach geraffter Information suchende Historikerinnen und Historiker und hält, was es verspricht. Der Autor versteht es, informativ und anschaulich zugleich zu schreiben, komplexe Zusammenhänge behutsam zu entflechten und eingängig darzustellen. Zahlreiche treffend ausgewählte farbige Abbildungen, ein Anmerkungsapparat, eine Bibliografie wichtiger Titel, Stimmen zu Napoleon und ein Namensregister ergänzen die Darstellung, die in zwölf Abschnitte gegliedert ist. In der sehr gut gelungenen Einleitung skizziert Ullrich wesentliche Etappen der historiografischen Auseinandersetzung mit Napoleon, die folgenden zehn Kapitel zeichnen chronologisch das Leben Napoleons nach, vom Aufstieg in den Wirren der Französischen Revolution bis zum "Martyrium auf Sankt Helena"; der Schlussabschnitt schließlich widmet sich der bis heute nachwirkenden Napoleon-Legende, die Bonaparte selbst noch zu seinen Lebzeiten mit großem Ehrgeiz und nachwirkendem Erfolg hegte und pflegte.
Ullrich hat eine moderne Biografie geschrieben. Er stützt sich großteils auf die aktuelle Forschung, und er hat Napoleon nicht künstlich isoliert, sondern seine Person und sein Handeln in einen weiteren politischen und sozialen Kontext eingebunden. Ullrichs Napoleon ist denn auch ein vom eigenen Herrschaftssystem Getriebener und Gefangener, kein realitätsblinder, größenwahnsinniger Fantast. Ohne Webers Typen der Herrschaft explizit zu erwähnen, arbeitet der Verfasser die "charismatische Autorität" (52) Bonapartes als wesentliches Strukturmerkmal des napoleonischen Herrschaftssystems heraus. Napoleon, dem die Legitimität der europäischen Monarchien fehlte, war zum dauerhaften, sich stetig steigernden Erfolg verdammt, um einem Verblassen seines Charismas entgegenzuwirken. Dieser - freilich nicht neue - Ansatz erklärt die Dynamik des napoleonischen Aufstiegs, die permanente Unruhe in seiner Politik und auch die Dramatik seines Niedergangs.
Das Wasser im Wein, mit dem jeder Leser einer solcherart dimensionierten Biografie rechnen muss: Weil Ullrich eine ungeheuere Stoff- und Perspektivenfülle auf knappstem Raum abzuhandeln hat, konzentriert er sich notgedrungen auf politische und militärische Großereignisse und macht selbst hier noch gewaltige Abstriche. Ausflüge ins Privatleben Napoleons, Blicke auf Alltag, Soziales, Kultur und die Rezeption des napoleonischen Herrschaftssystems in den verbündeten oder besiegten Ländern sind zwangsläufig extrem kurz gehalten. Hin und wieder schreitet Napoleon in Siebenmeilenstiefeln durch die Geschichte: Allein auf Seite 78 beispielsweise errichtet er die Kontinentalsperre, schlägt sich mit der russischen Armee, schürt Hoffnungen auf eine Wiedererrichtung Polens, stellt in seiner außerehelichen Affäre mit Maria Walewska seine Zeugungsfähigkeit unter Beweis und löst die Ehe mit Joséphine auf. Wegen dieses Zwangs zur gedrängten Darstellung wird die Person Napoleon für den Leser nicht so recht greifbar, und manches gerät auch etwas holzschnittartig, etwa wenn die Thermidorianer arg pauschal als "Gruppe skrupelloser Parvenüs und Geschäftemacher" (32) charakterisiert werden, oder wenn das gesamte, von Napoleon maßgeblich angestoßene rheinbündische Reformwerk in einen einzigen Satz gepresst wird (76). Schließlich sollte das Lektorat bei einer Neuauflage einige Flüchtigkeitsfehler korrigieren: So sind etwa die Konsulatsverfassung von 1799 (51) und der Aufruf Friedrich Wilhelms III. "An mein Volk!" (117) vom 17.3.1813 falsch datiert.
Zwischenbilanz: Ein kompaktes, instruktives und hilfreiches Buch, bei dem 50 zusätzliche Seiten gewiss nicht geschadet hätten.
Die von Johannes Willms vorgelegte Biografie beeindruckt vor allem anderen durch die gewaltige Schreibleistung des Autors und seine hohe Kunst, anschaulich und fesselnd zu erzählen. Penibel und erschöpfend wie wohl noch kein Napoleon-Biograf hat Willms den riesigen Fundus zeitgenössischer Briefwechsel, Memoiren und Aktenstücke ausgewertet. Er nutzt seine souveräne und umfassende Quellenkenntnis zu einer lebendigen, farbigen und dramatischen Darstellung, die streckenweise an einen historischen Roman erinnert. Das in drei große Abschnitte gegliederte Buch beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod Napoleons, die strenge Chronologie wird - abgesehen von einem Abschnitt über die "Kriegskunst" der Zeit (70-93) - kaum einmal durchbrochen. Leider hat Willms auf fast alles verzichtet, was helfen würde, sein Werk geschichtswissenschaftlich zu verorten: kein Vor- oder Nachwort, keine Einleitung, keine Hinweise zur Untersuchungsperspektive oder zum Forschungsstand, kein Literaturverzeichnis, immerhin aber ein sehr umfangreicher Anmerkungsapparat (sowie 21 meist Schlachten und Kriegszüge nachzeichnende Karten und 36 schwarz-weiße Abbildungen).
Als programmatischer Hinweis findet sich lediglich ein dem Werk vorangestelltes Motto, das aus Jacob Burckhardts "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" stammt: "Die Geschichte liebt es bisweilen, sich auf einmal in einem Menschen zu verdichten, welchem hierauf die Welt gehorcht." Dieser Leitspruch, den der Autor im letzten Abschnitt wieder aufgreift (674), bildet tatsächlich das methodische Grundgerüst der Biografie ab: Willms konzentriert sich ganz und gar auf Napoleon, auf seine Charaktermerkmale, Leidenschaften, Begabungen und Schwächen. Dieser Ansatz macht die Darstellung zwar überaus lebendig und die Person Napoleon für den Leser ungeheuer plastisch - zugleich und vor allem aber ist er eine arge Enttäuschung. Die vom Verlag angekündigte "große" Napoleon-Biografie, in welcher der Autor "alle Register der biographischen Kunst [zieht]", bleibt sowohl methodisch als auch in ihrer inhaltlichen Erklärungskraft weit hinter den hoch gesteckten Erwartungen zurück. Die Konzentration auf Person und Psychologie Napoleons führt dazu, dass der politische, sozioökonomische, kulturelle Kontext, den eine moderne Biografie berücksichtigen müsste, weitestgehend ausgeblendet bleibt. Dazu passt auch, dass Willms die historische Forschung der letzten fünfzig Jahre zur napoleonischen Ära bestenfalls selektiv zur Kenntnis nimmt und seine Arbeit daher passagenweise auf dem Forschungsstand des frühen 20. Jahrhunderts ruht. Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob dies nun Ursache oder Folge der gewählten personalistischen Engführung ist, ärgerlich bleibt es allemal.
Willms' Napoleon ist denn auch - fast zwangsläufig - ein von Machthunger und Omnipotenzwahn Getriebener, der "phantasmagorische Ziele" (540) und ein "monomanisches Machtstreben" (609) verfolgte, der "in die Macht schlechthin vernarrt war, die außer ihrer ständigen Mehrung kein Ziel hatte" (434). Napoleons "Handeln unterlag nur den Gesetzen des amor fati" (142, ähnlich 345 und 553). Dies ist die Triebkraft der gesamten Biografie, die deswegen geradezu deterministisch vom Aufstieg in den Untergang führt. Offen bleibt dann nur noch, wo der point of no return anzusiedeln ist: Einmal bietet sich Napoleon 1806 nach Jena und Auerstedt "zum letzten Mal" die "realistische Option", "Frankreich als Führungsmacht auf dem Kontinent zu etablieren" (458). Ein andermal hat er 1809 "mit Wagram [...] zum letzten Mal die Chance, eine europäische Friedensordnung zu stiften, die Frankreich die Rolle der kontinentaleuropäischen Führungsmacht garantiert hätte" (504). Der "Anfang vom Ende" zeigt sich wahlweise nach Austerlitz (429), nach Tilsit (468) und bei der Intervention in Spanien (598).
Fazit: Ein quellengesättigter, pointen- und anekdotenreichen Schmöker für den lesehungrigen und geschichtsbegeisterten Laien, den die methodisch-theoretischen Skrupel professioneller Historikerinnen und Historiker unbeeindruckt lassen.
Wolfgang Piereth