Patricia Drück: Das Bild des Menschen in der Fotografie. Die Porträts von Thomas Ruff, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2004, 304 S., 39 Farb-Tafeln, ISBN 978-3-496-01310-5, EUR 49,00
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Thomas Ruff gehört zu den bekannten und erfolgreichsten der so genannten Becher-Schüler, deren Popularität durch eine stattliche Anzahl von Publikationen gewürdigt wurde. Umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzungen stehen jedoch aus, was daran liegen mag, dass die Bilder als "Aussageverweigerung konzipiert wurden" (Graw). Sie leisten "jeder Art von Theoriebildung Vorschub, weil sie eine Art von 'stummer Präsenz' besitzen, die sich mit verschiedenen Bedeutungen auffüllen lässt" (Magnani). [1] Ihre Offenheit ermöglicht eine Fülle von Interpretationen, die sich dem Versuch einer präzisen, inhaltlichen Fixierung entziehen. Patricia Drück scheint gerade dies gereizt zu haben: In der als Überarbeitung ihrer Dissertation vorliegenden Publikation widmet sie sich mit Thomas Ruff genau dem Becher-Schüler, der die inhaltliche Entleerung der Fotografie am markantesten vorführt.
Im Zentrum stehen seine zwischen 1986 und 1991 entstandenen, großformatigen Portraits (210 x 165 cm). Es sind allesamt Brustbilder, die das Modell mit unbewegtem Gesicht, frontal, isoliert, vor neutralem Hintergrund und damit raum- wie zeitlos präsentieren. Die Unmöglichkeit, über die Oberfläche der Bilder zu dem Gezeigten vorzudringen, bedingt geradezu zwangsläufig die Frage nach Bedeutung und Aussagekraft des Gesichtes in der Fotografie. Sie ist ein zentraler Diskussionspunkt, dem Patricia Drück historisch, medial und anhand einzelner Künstlerpositionen nachgeht. Diese drei Perspektiven gliedern ihren Text: Sie widmet sich dem Portrait als Gattung und als Phänomen; den Künstlern, für die das Portrait in den 80er-Jahren ein zentrales Thema ihrer Arbeit war und dem fotohistorischen wie vor allem theoretischen Portraitdiskurs. Ziel ist es, über die sich wandelnde Ästhetik der Fotografie des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihre zentrale These der "Nicht-Darstellbarkeit des Menschen im Fotoportrait" (13) als neue Qualität des Portraits einzuführen.
In einer Analyse der wesentlichen "Leitbegriffe" und Funktionen des Bildnisses liefert das erste Kapitel eine systematische Erarbeitung der historischen "Mindestanforderungen für den Begriff des Portraits" (23), die sich im 20. Jahrhundert grundlegend wandeln. Nach einem Parforceritt durch die Geschichte des fotografischen Portraits kommt Drück zu der Ansicht, dass den Kategorien der Wiedererkennbarkeit und der Authentizität nur noch eine untergeordnete Rolle zukomme. Längst sei die ehemals selbstverständliche Vergewisserung der Realität über ihre mediale Vermittlung fragwürdig geworden und habe zu einem "Bruch zwischen klassischer und moderner Portraitkonzeption geführt" (55). Statt eines Individual- oder Identitätsbildnisses stehe in der zeitgenössischen Kunst, vor allem in der Fotografie, nun das Gesicht als Fassade, als reine "Gesichtlichkeit" (29) im Zentrum. Der konstatierte Umschwung von einem Bedeutungsbild zur gestalteten Oberfläche lässt Drück von der "Ent-gesichtung" des Portraits sprechen.
Anhand einzelner Künstlerpositionen wird diese These im zweiten Kapitel erläutert. Dafür holt die Autorin ähnlich weit aus wie im ersten Kapitel, beschreibt die allgemeine Situation der Fotografie in Deutschland, die Arbeit von Bernd und Hilla Becher, ihre bekanntesten Schüler und kommt schließlich auf Seite 98 zum Werk von Thomas Ruff, dem die nächsten 30 Seiten gewidmet sind. Resümierend hält sie fest, Ruff visualisiere den Diskurs über das reproduzierte Bild, indem er die Konstruktion von Wirklichkeit untersuche (129). Die darauf folgende Darstellung unterschiedlicher Portraitstrategien vor allem der 80er-Jahre analysiert die Wendung vom Inhalt auf die mediale Reflexion als zeitspezifisches Phänomen, das Ruff wie kein anderer Künstler seiner Generation auf die Spitze getrieben hat.
Es ist das Paradox, das Subjekt zu verabschieden und zugleich ins Zentrum zu rücken, in dem für Drück der Bewusstseinswandel in der allgemeinen Wahrnehmung von Fotografie gipfelt. Denn so wie sich die Auffassung von der Einheit und Abbildbarkeit einer Person gewandelt habe, so wandle sich auch der Glaube an die Authentizität der Wirklichkeitsdarstellung durch die mechanische Objektivität der Fotografie.
Das letzte Kapitel arbeitet den dekonstruierenden Blick auf das Portrait und auf die Fotografie gleichermaßen heraus. In einer medientheoretischen wie philosophischen Betrachtung werden phänomenologische, strukturalistische, poststrukturalistische und linguistische Ansätze herangezogen, um der Bedeutung der Fotografie für die "Entgesichtung" des Portraits nachzugehen. In dieser überwiegend abstrakt-theoretischen Untersuchung finden sich interessante Überlegungen, zum Beispiel eine Weiterentwicklung des Aura-Begriffs von Walter Benjamin mit Blick auf die zeitgenössische Portraitfotografie (210 ff.). Insgesamt dienen Drück die Theorien dazu, Ruffs formalästhetische Konzentration auf die Oberfläche mit einem kulturellen Repräsentationswandel zu erklären. Das Dilemma, dass die Oberflächlichkeit eine unterstellte Bedeutungslosigkeit provozieren kann (222) wird über den gegenseitigen Einfluss von zeitgenössischem Portraitverständnis und technischen Bildgenerierungsmöglichkeiten aufgelöst. Dabei gelingt es Drück, die Komplexität der unterschiedlichen Gedankengebäude doch immer wieder mit dem fotografischen Portrait der 80er-Jahre rückzukoppeln.
"Das Bild des Menschen in der Fotografie. Die Portraits von Thomas Ruff" von Patrizia Drück ist eine sehr detailreiche und sorgfältig recherchierte Arbeit, die mehr bietet, als der Titel verspricht. Die Portraits von Thomas Ruff stehen im Mittelpunkt der Text-Strecke, nicht der Text-Menge. Sie sind weniger Untersuchungsgegenstand als Anlass einer fundierten Auseinandersetzung mit dem Portrait als fotografischer Gattung und als Objekt theoretischer Reflexion. Über die durchaus wirkmächtigen, aber rein formalästhetischen Bilder Ruffs lenkt Drück das Interesse des Lesers auf die veränderte Erwartungshaltung, die "die Fotografen speziell in den 80er-Jahren vor das Problem (stellen), die Emanation des Referenten (Roland Barthes) und das Verschwinden des Referenten (Paul Virilio) in ein Verhältnis setzten zu müssen, da sich die Bezugspunkte dieser Referenzen im ausgehenden 20. Jahrhundert merklich verschoben haben" (232).
Entsprechend ist es auch eher eine kunsttheoretische denn kunstgeschichtliche Arbeit, in der die Autorin dazu neigt, auf komplexe Sachverhalte eine zusätzlich komplizierende Sprache zu setzen, etwa in Form des leitmotivischen Raune-Terminus "autothematische Gattungsreflexion". Mühsam wird die Lektüre auch durch unnötig viele Verweise. Sie unterbrechen die Kontinuität der Argumentation, die sich innerhalb des jeweiligen Kapitels schließt. Da alle drei Kapitel ihr Thema historisch einführen und die der Arbeit vorangestellte These zu untermauern suchen, entsteht ein repetitiver Charakter. Auf der anderen Seite ist diese Variante, die bedeutungsoffene Oberfläche der Bilder mit der Entwicklung der Kunst, der Portrait- und Mediengeschichte kurzzuschließen, der bislang brauchbarste Ansatz, dem Werk von Thomas Ruff beizukommen. Indem die inhaltliche Leere der Fotografien über eine durchaus eindrucksvolle Beweisführung als zeitgenössisches Phänomen entlarvt wird, schreibt Drück der Arbeit Ruffs ein aufklärerisches Moment zu, dessen Entwicklung sie entfaltet.
Anmerkung:
[1] Isabelle Graw im Gespräch mit Gregorio Magnani, in: Artis, Feb. 1990, 42. Jg., 56-59.
Maren Polte