Sönke Neitzel: Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945, Berlin / München: Propyläen 2005, 638 S., 31 Abb., ISBN 978-3-549-07261-5, EUR 26,00
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"Wir haben auch keine Ehre, wir haben Ehrgeiz, schmutzigen Ehrgeiz, schmutzigen Ehrgeist, weiter nichts." (286) Dass diese und weitere Selbstreflexionen deutscher Generale nun veröffentlicht sind, ist dem Mainzer Historiker Sönke Neitzel zu verdanken. Neitzel hat erstmals die 1996 freigegebenen Abhörprotokolle des britischen Geheimdienstes aus Trend Park, einem Sonderlager für kriegsgefangene deutsche Stabsoffiziere und Generale, ausgewertet und aus über 10.000 Seiten 189 Dokumente aus dem Zeitraum vom Spätsommer 1942 bis zum Herbst 1945 ausgewählt.
Der Edition ist eine ausführliche Einleitung vorangestellt (7-84), in der Neitzel auf die Entstehungsgeschichte, die Forschungs- und Quellenlage sowie auf die Auswahlkriterien der Dokumente eingeht. Die Quellenedition selbst gliedert sich in vier Themenschwerpunkte: Politik und Strategie (89-224), Kriegsverbrechen (225-319), Reaktionen auf den 20. Juli 1944 (320-377) und Reflexionen über Kollaboration (378-428).
Im ersten Teil stehen Kriegslage und -verlauf sowie die Stellung der Wehrmacht im Nationalsozialismus im Mittelpunkt. Hierbei werden zwei Gruppierungen sichtbar: eine "anti-Nazi clique" um General Wilhelm Ritter von Thoma und eine "Nazi clique" um General Ludwig Crüwell. Das - filmreife - "Duell" der beiden Protagonisten zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Hierbei zeigen sich gruppendynamische Vorgänge ebenso wie die Heterogenität der gefangenen Generale. Es wird deutlich, dass der viel beschworene Korpsgeist sich nur noch am Habitus festmachen lässt.
Der nächste Abschnitt ist dem für eine breite Leserschaft wohl spannendsten Thema gewidmet: dem Wissen um Kriegsverbrechen. Einzelne Generale berichten über - auch der Forschung bisher unbekannte (180, 258) - Vorgänge, die entweder auf eigener Zeugenschaft oder auf Gerüchten basieren. Zu diesen Berichten gehören auch solche über "Vergasungsanstalten" (295) oder Auschwitz (283, 311, 322). Es zeigt sich einmal mehr, dass von einer breiten Mitwisserschaft ausgegangen werden kann. Die Masse der Offiziere lehnte die Verbrechen wegen ihrer Methoden ab ("Frauen und Kinder, das musste nicht sein", 139; "wir haben uns benommen wie die Tiere", 247), aber nur wenige gestanden eine Mitschuld ein. Dagegen ist bei einigen das Feindbild vom "jüdischen Bolschewismus" durchaus noch sichtbar (174, 288, 308). Für Crüwell, der in den Fünfzigerjahren auch als möglicher Generalinspektor der Bundeswehr gehandelt wurde, waren es die Juden, "die uns Mann für Mann vernichten wollen" (107). Nach Auffassung von Generalleutnant Maximilian Siry war die Wehrmacht sogar "nicht barbarisch genug". Er brüstete sich damit, im Krieg gegen die Sowjetunion vorgeschlagen zu haben, Kriegsgefangenen ein Bein abzuschlagen, damit diese nicht fliehen können (310).
Der nächste Abschnitt beinhaltet die Reaktionen auf den 20. Juli, die von Bedauern über den Fehlschlag und bis zur Verurteilung des Attentates reichen (339, 345). Bemerkenswert ist der Kommentar von General Dietrich von Choltitz, das Schicksal wolle es, dass Hitler "bis zum Ende tritt, bis zum bitteren Ende" (344).
Auch im letzten Abschnitt, der die ab April 1944 einsetzende Diskussion über die mögliche Gründung eines "Nationalkomitee West" behandelt, zeigt sich, welche Rolle der Eid auf Hitler selbst noch in der Kriegsgefangenschaft für einige Generale spielte (212, 391, 398, 421). Auch wegen der eigenen Untätigkeit im "Affenkasten" (382), waren es insbesondere Mitglieder aus der Gruppe um Thoma, die über Formen der Kollaboration mit den Alliierten diskutierten. Man kam schließlich überein, keine "Seydlitz-Geschichte" zu machen, solange die Front noch halte (399). An einem Wiederaufbau Deutschlands hingegen wollte man sich beteiligen. Dieser weitgehend unbekannte Vorgang zeigt, dass die Briten durchaus ein entsprechendes Komitee hätten aufbauen können, wenn sie es gewollt hätten.
Bei den Protokollen fällt auf, mit welcher Offenheit und Sorglosigkeit, trotz gelegentlicher Warnungen vor Abhörmaßnahmen (106), in Trend Park diskutiert wurde. Wie "fromme Brüder, die einst Krieger gewesen sind" (21), reflektierten hier Generale ihre Rolle, ihr Handeln und ihr Selbstverständnis. Die Zeitnähe und der Umstand, dass die Beteiligten davon ausgingen, die Gespräche würden den vertrauten Kreis nicht verlassen, verleihen den hier edierten Protokollen ein hohes Maß an Authentizität. So entstand eine Gegenüberlieferung zu den Nachkriegsaussagen und der apologetischen Memoirenliteratur. Hierfür ist Choltitz ein gutes Beispiel: Weder erwähnt er in seinen Memoiren seine Beteiligung an Verbrechen, noch offenbart er sein erstaunliches Detailwissen über den Widerstand, wie er es in Trend Park tat (347-351).
Aus der ex post Perspektive sind die Zukunftserwartungen der Militärs von besonderem Reiz. Diese reichen von "nach dem Krieg werden wir Stiefelputzer und Gepäckträger sein" (121) bis "sie können ja letztes Ende nicht alle Offiziere auf die Straße setzen" (183). Auch über mögliche Verteidigungsstrategien bei Kriegsverbrecherprozessen wurde nachgedacht, wobei das spätere Vorgehen bereits sichtbar wird: Es wurden Sündenböcke gesucht ("Jetzt brauchen wir einen Prügelknappen" [sic], 427), auf putativen Befehlsnotstand plädiert ("Das ist meine Verteidigung. Aber eine moralische Verteidigung ist es nicht mehr." 301) und ein einheitliches Vorgehen angemahnt (301).
Sicherlich hat der britische Geheimdienst bei der Belegung seiner Abhörlager nicht darauf geachtet, ein möglichst gutes "sample" für spätere Historiker zusammenzustellen. Dennoch können die hier versammelten Generale als durchaus repräsentativ angesehen werden, allerdings mit der Einschränkung, dass "Ostfrontgenerale" zwangsläufig kaum vertreten sind. Die hier versammelten Offiziere bildeten - wenn man von Generaloberst Hans-Jürgen von Arnim absieht - die zweite Reihe der Generalität, also Korps- und Divisionskommandeure, über die bisher noch wenig bekannt ist. Nicht nur deswegen ist Neitzel zuzustimmen, dass das Bild der Generalität an "Tiefenschärfe" gewinnt (80).
Das vorliegende Buch ist eine wichtige Veröffentlichung zur Mentalitätsgeschichte der deutschen Militärelite im Zweiten Weltkrieg. Die Edition ist insgesamt als vorbildlich zu bezeichnen. Sie wird abgerundet durch 88 Kurzbiografien (429-480) der zu Wort kommenden Offiziere. Im umfänglichen Anmerkungsteil liefert Neitzel zudem eine Fülle von Informationen zu Personen und Ereignissen sowie weiterführender Literatur. Wäre noch ein Orts- und Schlagwortregister erstellt worden, blieben dem Leser keine Wünsche offen.
Diese Veröffentlichung sollte aber nur ein Anfang sein. Der Autor hat nur einen Bruchteil der Abhörprotokolle veröffentlicht und nur die höhere Offiziersebene berücksichtigt. Die Unteroffiziers- und Mannschaftsebene harren dagegen noch ihrer Bearbeitung. Es sind also noch wichtige Arbeiten auf der Grundlage des Bestandes der National Archives in London zu erwarten. Auf diese Quellen aufmerksam gemacht zu haben, ist das große Verdienst von Neitzel.
Timm C. Richter