Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München: Siedler 2008, 426 S., ISBN 978-3-88680-861-8, EUR 24,95
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Heiner Möllers: Die Affäre Kießling. Der größte Skandal der Bundeswehr, Berlin: Ch. Links Verlag 2019
Jens Dobler: Polizei und Homosexuelle in der Weimarer Republik. Zur Konstruktion des Sündenbabels, Berlin: Metropol 2020
Mirjam Seils: Die fremde Hälfte. Aufnahme und Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Mecklenburg nach 1945, Schwerin: Thomas Helms Verlag 2012
Vertriebene in Deutschland waren nach 1945 für Einheimische nicht nur Fremde, sondern auch unerwünschte Konkurrenten um knappe Ressourcen. Für viele Vertriebene folgte daher auf den Schock ihrer brutalen Vertreibung der Schock ihrer Diskriminierung im eigenen Land. Kritische Reflexionen über diese "menschlichen Erniedrigungen" und den "ganze[n] Komplex mangelnder gesellschaftlicher Aufnahme und Anerkennung", wie sie die Evangelische Kirche in ihrer Ostdenkschrift 1965 anstellte, blieben selten und folgenlos. In beiden Nachkriegsgesellschaften wurde diese Konflikterfahrung beschwiegen oder geschichtsklitternd überformt. Erst vor kurzem hat die Forschung sie wiederentdeckt. Andreas Kosserts Buch ist der bisherige Höhepunkt dieser Entwicklung.
Ethnologen und Soziologen haben den Weg geebnet: 1991 kritisierte Albrecht Lehmann die herrschende "Integrationsideologie" als Harmonisierung, welche die "Zeit der Diffamierung und Benachteiligung [...] auf eine reine Erfolgsstory" reduziere. [1] Utz Jeggle zeigte 1998, dass die Behandlung durch die Einheimischen für Vertriebene "schlimmer als ein Kulturchoque" gewesen sei - die "totale Aufkündigung der nationalen Solidarität." [2] Selbst die SED-Geschichtswissenschaft durfte 1988 darauf hinweisen, dass es auch im SED-Staat erst "über einen längeren Zeitraum" hinweg gelungen sei, "die Probleme, die das Zusammenleben zwischen alter und neuer Bevölkerung mit sich brachten, zu überwinden." [3] Nach 1989/90 nahm die zeitgeschichtliche Forschung diese Anregungen auf und hat immer deutlicher das Gewaltsame und Konflikthafte des beginnenden Integrationsprozesses betont. Doch noch am 7. Juni 2005 wurde ein wissenschaftlicher Versuch, "'das Tabu der nachkriegsgesellschaftlichen Integrationskonflikte' [zu] brechen", in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" kritisiert. Das 2008 erschienene Buch des am DHI Warschau tätigen Historikers Andreas Kossert, der seiner "Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945" den programmatischen Titel "Kalte Heimat" gegeben hat, ist nicht nur deshalb verdienstvoll, weil es bisher verstreute Neubewertungen der Vertriebenenintegration für ein breites Publikum gekonnt zusammenfasst. Bemerkenswert ist auch das einhellig positive Echo der Öffentlichkeit, das eine Korrektur der bisherigen Erinnerungspolitik verspricht.
Kossert nähert sich dem Thema in zwölf Kapiteln und präsentiert gleich zu Anfang seine Kernthese: "Abgesehen von der Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden hat nichts, was auf die NS-Wahnherrschaft zurückzuführen ist, der deutschen Gesellschaft so schwere Wunden geschlagen und das Land so versehrt [wie die Vertreibung von Millionen Deutschen]. Doch die meisten Deutschen wollten das nicht sehen, nicht hören, nicht wissen." (9) Eben dies meint "Kalte Heimat". In der heute noch strittig ist, ob Vertriebene überhaupt als Opfer betrachtet werden dürfen. Es folgen Grundinformationen über die Vertreibung und zur Lage der Vertriebenen nach 1945 - über "Traumatisierung und Schmerz", über soziale Notlagen, zum Thema "deutscher Rassismus gegen deutsche Vertriebene" (71), wobei sich Konflikte zwischen einheimischen und vertriebenen Deutschen nach Grundmustern der im "Dritten Reich" antrainierten Kollektivpsychosen strukturierten. Das Umverteilungsprogramm des westdeutschen Lastenausgleichs wird gewürdigt, aber angemessen relativiert. Die Ambivalenz der Integrationspolitik in Westdeutschland berührt Kossert, wenn er Integrationshilfen den illusorischen Rückkehranspruch in die frühere Heimat entgegenstellt. Um 1970, als die "neue Ostpolitik" das Fait accompli endlich anerkannte, driftete der organisierte Teil der Vertriebenen ins Getto der "ewig Gestrigen" ab. In der DDR hingegen war schon seit 1945/49 eine Politik radikaler Zwangsassimilation betrieben worden, die das dort so genannte "Umsiedler-Problem" zumindest öffentlich zum Verschwinden brachte. Die Einbeziehung der vier Millionen in der DDR lebenden Vertriebenen ist ein wichtiges Plus der Kossert'schen Darstellung.
Hinsichtlich der Funktion der Kirchen im Integrationsprozess betont Kossert weniger den Effekt interkonfessioneller Durchmischung und Pluralisierung, sondern die anfängliche Wirkung vertriebener Gläubiger als "Ferment." (249) Innerkirchliche Integrationskonflikte werden beiläufig behandelt, der Fokus liegt auf Gewinnen der Zuwanderung (Brauchtum) und auf der Vermittlerrolle Vertriebener im Umgang mit osteuropäischen Nachbarn. Über die differenzierte Darlegung des Vertreibungs- und Vertriebenenthemas in Literatur und Medien gelangt Kossert zur Einschätzung des "kulturellen Erbes der Vertriebenen" - vom "Vermächtnis der verlorenen Landschaften", die aus der kollektiven Erinnerung zu entschwinden drohten, bis zur Alltagskultur. Unter dem Titel "Unbewältigter Schmerz" geht es schließlich um die Langzeitwirkung der Gewalterfahrungen, die bei Vertriebenen intergenerationell ebenso weiterwirken wie bei Opfern anderer Gewaltverbrechen.
Natürlich kann bei einem Buch, das einen derart weiten Bogen schlägt, nicht jede Darstellung akzeptiert werden. So gab es für die "Heimatlosen" vor 1953 keineswegs "Bezeichnungen von größter Beliebigkeit" (10), vielmehr existierte ein Set konkurrierender Sprachpolitiken. Dass die Einheimischen Deutschland "ganz allein" wiederaufgebaut hätten (14), stand weit weniger im Zentrum harmonisierender Sonntagsreden als eine angeblich konfliktfreie Gemeinsamkeit. Die Minderheitenvorerfahrung der Vertriebenen (20-26) betrifft nur Teile der Volksdeutschen, aber nicht die reichsdeutsche Mehrheit der Vertriebenen und nur bedingt (nach 1918) die Sudetendeutschen. Die Bewertung der "Charta der Heimatvertriebenen" fällt einseitig positiv aus, ohne neuere Forschungskontroversen zu berühren (150f.). Die Brandt'sche Ostpolitik löste "bei den Vertriebenen Bestürzung und Verbitterung" aus (176), denn "die Zeit schien abermals über sie hinwegzugehen" (181) - doch die Vertriebenen waren und wählten damals zutiefst gespalten. Der Umgang mit Anmerkungsziffern ist manchmal ärgerlich: Mal werden sie gesetzt, obwohl die Paraphrase weitergeht (109, Anm. 47), ein andermal fehlen sie (153, Schellhaus-Zitat), ein drittes Mal lassen sie den Bezug unklar (349f.). Auch muss der zitierte Historiker "Paul Exner" (131) in Peter Exner zurückverwandelt werden.
Kleine Defizite schmälern nicht die Anerkennung für dieses wichtige Buch. "Etwas will erzählt werden", zitiert Kossert (300) aus einer DDR-Erzählung, die nach 1980 Tabus aufzubrechen half. Dasselbe leistet heute Kosserts "Kalte Heimat" mit Blick auf die Ausgrenzung der Vertriebenen nach der Vertreibung. Kossert postuliert eine "gesamtdeutsche", Vertriebene und Nichtvertriebene gleichermaßen angehende "Verpflichtung zu Dokumentation und Erinnerung" (335). Dies ist eine notwendige Antithese zum Mythos solidarischen Wiederaufbaus. Eine ausgewogene Synthese muss erst noch gefunden werden, doch unerlässliche Voraussetzung ist, dass die "Kalte Heimat" ihre Vertriebenen endlich als "Opfer" von Weltkrieg und Nachkrieg zu würdigen lernt.
Anmerkungen:
[1] Albrecht Lehmann: Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945-1990, München 21993, 68f.
[2] Utz Jeggle: Kaldaunen und Elche. Kulturelle Sicherungssysteme bei Heimatvertriebenen, in: Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, hg. von Dierk Hoffmann / Marita Krauss / Michael Schwartz, München 2000, 395-407, hier 398.
[3] Wolfgang Meinicke: Zur Integration der Umsiedler in die Gesellschaft 1945-1952, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 36 (1988), 867-878, hier 878.
Michael Schwartz