Sören Brinkmann: Der Stolz der Provinzen. Regionalbewußtsein und Nationalstaatsbau im Spanien des 19. Jahrhunderts (= Hispano-Americana. Geschichte, Sprache, Literatur; Bd. 37), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 235 S., ISBN 978-3-631-53404-5, EUR 42,50
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Thorsten Holzhauser: Die "Nachfolgepartei". Die Integration der PDS in das politische System der Bundesrepublik Deutschland 1990-2005, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019
Karin Nowak: Spanien zwischen Diktatur und Republik. Korporatismus, organisierte Interessen und staatliche Sozialpolitik 1919-1936, Essen: Klartext 2004
Michael Steffen: Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971-1991, Berlin: assoziation a 2002
Sören Brinkmann: Milch für die Tropen! Lebensmittelkontrolle und Ernährungspolitik am Beispiel der städtischen Milchversorgung in Brasilien (1889-1964), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020
Walther L. Bernecker / Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2006, 2. Aufl., Münster: graswurzelrevolution 2006
In der Geschichte des Nationalismus in Europa stellt der spanische Fall auf den ersten Blick ein Paradox dar. Einer frühen Nationalstaatsbildung im 16. Jahrhundert folgten im 19. und 20. Jahrhundert gegen den europäischen Trend eine langfristige Krise der zentralstaatlichen Ordnung und der Aufstieg alternativer Nationalismen in verschiedenen Landesteilen. Die Forschung hat sich in den vergangenen Jahren intensiv dieses vermeintlichen Widerspruchs angenommen und Gründe für die besondere Entwicklung des spanischen Nationalstaats erörtert. Das Verhältnis von Region und Nation ist in diesem Kontext von besonderer Bedeutung, waren regionalistische Bewegungen doch die wichtigste Herausforderung der spanischen Zentralregierung. Entsprechend gehören der baskische und katalonische Nationalismus zu den meistuntersuchten Forschungsfeldern der neueren spanischen Geschichte.
Anhand einer Studie regionaler Geschichtskultur in Saragossa und Valencia spürt Sören Brinkmann in seiner innovativen Dissertation der Rolle regionaler Erinnerungskulturen in den Auseinandersetzungen um den spanischen Nationalstaat nach. Er wählt dabei bewusst zwei in der Nationalismusforschung bislang wenig beachtete Städte des ehemaligen Königreiches Aragonien aus, in denen alternative Nationalismen im Gegensatz zum benachbarten Katalonien bis in das 20. Jahrhundert hinein kaum Bedeutung erlangten. Brinkmann vermag für den spanischen Fall gängige Interpretationsmuster des Verhältnisses von Nation und Region zu differenzieren und unser Verständnis des Verhältnisses von Region und Nation in Spanien des 19. Jahrhunderts beträchtlich zu erweitern. Weder bildeten, wie ältere Ansätze vermuteten, nationale und regionale Erinnerungskulturen notwendigerweise Gegensätze, noch stärkte umgekehrt die regionale Identitätsstiftung unausweichlich den nationalen Zusammenhalt. Vielmehr vermittelten die regionalen Geschichtskulturen zu unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedliche Botschaften und Einstellungen. Die Vielfalt dieser Botschaften für den Zeitraum beinahe eines ganzen Jahrhunderts entschlüsselt zu haben, ist ein wichtiges Verdienst der Arbeit.
Ein vielfältiges Spektrum geschichtskultureller Aktivitäten wird vor dem Leser ausgebreitet. Neben der Analyse von Gedenktagen, historischen Gemälden und Geschichtswerken sowie publizistischen Debatten über regionale Geschichtstraditionen erweist sich insbesondere die genaue Schilderung eines Denkmalprojekts für einen regionalen Geschichtshelden in Saragossa, das sich über mehrere Jahrzehnte hinzog, als Glücksfall für die Arbeit. Veränderungen der geschichtspolitischen Debatten lassen sich an der Denkmalsdiskussion symptomatisch ablesen.
Die historischen Bezugspunkte regionaler Selbstdeutung veränderten sich im 19. Jahrhundert erstaunlich wenig. Es waren im Wesentlichen die mittelalterliche Sonderrechtstradition der fueros und deren Verteidigung gegen die spanische Krone, die den Gegenstand dann im Einzelnen sehr unterschiedlicher historischer Aneignungen und politischer Instrumentalisierungen durch das städtische Bürgertum als Träger der Geschichtskultur bildeten. Der Rückbezug auf die fueros diente im Frühliberalismus zunächst der historischen Legitimation der liberalen Volksherrschaft im Kampf gegen die napoleonischen Invasoren und die neoabsolutistischen Bestrebungen des bourbonischen Herrschers Ferdinand VII. nach 1814. Unterfütterte hier das regionale Sonderbewusstsein das Bekenntnis zum liberalen Nationalstaat, diente der Rekurs auf die mittelalterlichen Sonderrechte im konstitutionellen Regime seit den 1830er-Jahren vor allem dazu, eine autoritäre Zentralisierungspolitik der Madrider Regierung abzuwehren. Umgekehrt erschien nun der provincialismo der Regionen den Verfechtern des Zentralstaates als Bedrohung der nationalen Einheit. Die regionale Geschichte wurde nun zum Kampfplatz um die angemessene Deutung der Vergangenheit im zentralstaatlichen bzw. regionsautonomen Sinne. Dem Madrider Herrschaftszentrum gelang es in diesen Auseinandersetzungen trotz intensiver Anstrengungen nicht, die geschichtskulturelle Deutungshoheit zu erringen. Wiederholte Versuche, nach französischem Vorbild ein nationales Pantheon der "großen Männer" Spaniens in der Hauptstadt zu etablieren und dadurch ein auch regionsübergreifendes integratives Nationsverständnis zu fördern, fanden in den Regionen beispielsweise kaum Unterstützung.
Nachdem die revolutionären Jahre 1868 bis 1874 der regionalen Geschichtskultur im Windschatten republikanisch-föderalistischer Ideen einen neuen Aufschwung verschafft hatten, bildete der Beginn der Restaurationsmonarchie 1874 eine weitere wichtige Zäsur. Während sich in Katalonien allmählich das regionale Sonderbewusstsein politisierte, trat es in Saragossa und Valencia in den Hintergrund, nachdem der Zentralstaat Kompromissbereitschaft in der politisch strittigen Frage der Kodifizierung des Zivilrechts gezeigt hatte. Regionale Identität und nationales Bekenntnis wurden als kompatibel wahrgenommen.
Es gelingt Brinkmann auf eindrucksvolle Weise, durch eine kluge Auswahl von Beispielen den Wandel regionaler Geschichtskulturen anschaulich darzustellen und auf das Projekt der Nationalstaatsgründung im 19. Jahrhundert zu beziehen. Die regionalen Geschichtstraditionen bildeten ein kulturelles Kapital in den tagespolitischen Aushandlungen über die zentralistischen oder föderalistischen Formen des Nationalstaates, wobei die spanische Nation als solche in den behandelten Regionen niemals prinzipiell infrage gestellt wurde. Brinkmann trennt damit das 19. Jahrhundert sorgfältig von der weiteren Entwicklung der Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie im 20. Jahrhundert. Seine Arbeit ist auf das Wesentliche konzentriert, was ihrer Lesbarkeit zugute kommt, auch wenn sich der interessierte Leser an einigen Stellen weitergehende Informationen wünscht, etwa über die Etablierung einer Regionalgeschichtsschreibung oder auch über die gescheiterten Versuche, regionale Geschichtsmythen über ihre bürgerlichen Trägerschichten hinaus zu popularisieren. Der Arbeit ist eine rasche Übersetzung ins Spanische zu wünschen.
Till Kössler