Stephanie Wolf: Erfurt im 13. Jahrhundert. Städtische Gesellschaft zwischen Mainzer Erzbischof, Adel und Reich (= Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Reihe A: Darstellungen; Bd. 67), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, 310 S., ISBN 978-3-412-12405-2, EUR 39,90
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Erfurt war im Mittelalter das urbane Zentrum Thüringens. Die positive wirtschaftliche Entwicklung der Stadt beruhte auf dem Waidhandel, ihr regionaler politischer Einfluss auf einer erfolgreichen Umlandpolitik. Diese strukturellen Entwicklungen wirkten auf die Bürgergemeinde, in der sich politische Führungsgruppen im Zuge der Ratsentstehung herausbildeten. Weiter strebte die Bürgergemeinde in Erfurt nach der Autonomie, d. h. nach der Befreiung von der Stadtherrschaft des Mainzer Erzbischofs. In ihrer Jenenser Dissertation beschreibt und analysiert Wolf wichtige Etappen dieser miteinander gekoppelten Entwicklungen für das 13. Jahrhundert. Dazu verknüpft sie die lokalen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse mit wichtigen reichspolitischen und regionalen Faktoren, um so ihre Wirkung auf das städtische Autonomiestreben untersuchen zu können (4). Wolf will konkret wissen, welche sozialen Gruppen in Erfurt den ersten Rat gebildet haben, wie sich die soziale Zusammensetzung der politischen Elite im 13. Jahrhundert änderte, wie diese Eliten in das Wirtschafts- und Sozialgefüge der Stadt eingebunden waren und ob die verschiedenen städtischen Führungsgruppen ein spezifisches Selbstverständnis hatten.
Wolf untersucht die verfassungsrechtlichen Entwicklungen Erfurts, indem sie die Stadt und ihre Bürger eingebunden in ein Beziehungsgefüge vorstellt, zu dem der Mainzer Erzbischof als Stadtherr ebenso gehörte wie die regionalen politischen Herrschaftsträger (Landgrafen von Thüringen) und das Königtum bzw. Reich. Konflikte wie der Thronstreit nach der Doppelwahl von 1198, die päpstlich-staufischen Auseinandersetzungen in den 1240er-Jahren oder der 1247 ausgebrochenen thüringischen Erbfolgekrieg hatten nach Wolf unmittelbaren Einfluss auf die Verfassungsentwicklung in Erfurt.
Bei der Darstellung ihrer Ergebnisse orientiert sich Wolf an der Chronologie der Ereignisse und gliedert ihre Arbeit dementsprechend. An ein Kapitel zur Erfurter Bürgergemeinde im 12. Jahrhundert schließen sich sieben weitere Kapitel an, in denen die Verfassungsentwicklung und Lösung der Bürgerschaft / des Rates von der Stadtherrschaft des Mainzer Erzbischofs bis zum Ende des 13. Jahrhunderts beschrieben werden. In jedem Kapitel schildert Wolf eine Etappe der allmählichen Lösung der Stadt aus dem Zugriff des Mainzer Erzbischofs und den jeweils erreichten Stand der bürgerlichen Selbstverwaltung, also der Ratsverfassung. Zudem kann sie die Zusammensetzung - inklusive der Veränderungen - der politischen Führungsgruppen in Erfurt herausarbeiten, die sich im Untersuchungszeitraum gleichsam aus der Gemeinde heraus entwickelten.
Im Einzelnen beschreibt Wolf, wie während des staufisch-welfischen Thronstreits im Jahr 1212 der erste Erfurter Rat entstanden ist (Kapitel II), wie die Bürger 1233/34 um ihre Selbstbehauptung gekämpft haben (Kapitel III) und wie die Erfurter die Konflikte zwischen Papsttum und Reich in den Jahren 1241 bis 1244 genutzt haben, um ihre Autonomiebestrebungen, also die Lösung aus dem stadtherrlichen Zugriff des Mainzer Erzbischofs, zu verstärken (Kapitel IV). In den wichtigen Kapiteln V und VI untersucht Wolf die Reform der Ratsherrschaft 1255 und das - schließlich erfolgreiche - Streben der neuen politischen Führungsgruppe nach dem Herrschaftsmonopol in der Stadt in den Jahren 1256 bis 1274. Im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts war Erfurt eine quasiautonome Stadt. Die Ursachen für diesen Erfolg des Rates zeichnet Wolf anhand der Ereignisse im Konfliktjahr 1275 (Kapitel VII) und dem Interdikt (1279-1282), dem Aufstand Volrads von Gotha (1283) sowie der Concordata Gerhardi (1289) nach (Kapitel VIII). Nach der Zusammenfassung (Kapitel IX) bietet Wolf ihren Lesen noch einen sehr nützlichen Anhang, in dem die Ratsmitglieder der Jahre 1212 bis 1311 sowie genealogische Übersichten für fünf Ratsfamilien und die Herren von Apolda verzeichnet sind.
Wolf argumentiert auf der Grundlage ihrer sehr guten Literatur- und Quellenkenntnis, die über die auf Erfurt bezogenen Studien hinausgeht. Deshalb kann sie ihre lokalen Befunde im Vergleich mit den einschlägigen Forschungen zu Freiburg i. B., Mainz und Trier schärfen. Hervorzuheben ist die Konsequenz, mit der sie den Wirkungen von regionalen und überregionalen politischen Konjunkturen auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung Erfurts nachspürt. Dadurch kommt sie zu wichtigen und pointierten Ergebnissen. So kann sie plausibel machen, dass die burgenses der Jahre um 1212/17 ihr Selbstverständnis - nämlich unabhängig vom Stadtherren für ihre Stadt verantwortlich zu sein und deshalb Selbstregierungsrechte zufordern - während des Thronstreits "in einer Zeit hoher politischer Eigenständigkeit" ausgebildet hatten (45).
Als "einschneidende Zäsur" und "Wendepunkt" für die Erfurter Stadtentwicklung bezeichnet Wolf die Ratsreform von 1255, denn auf dieser Grundlage habe sich erst die "quasiautonome" Stadt herausbilden können (259). Zu diesem Urteil gelangt Wolf, weil der Stadtrat in diesem Jahr für neue Familien zugänglich gemacht wurde. Der Rat bestand aus zwölf Personen, die aus Familien rekrutiert werden sollten, die als "alt", "mittel" und "jung" bezeichnet wurden. Damit war das Alter der Familien gemeint, genauer die Dauer ihrer Anwesenheit in der Stadt (147). Mit der Ratsverfassung wurde ein Kompromiss gefunden, durch den bisher ungefähr 30 nicht ratsfähige Familien gemeinsam mit einem Teil der schon etablierten alten Familien eine neue politische Führungsschicht gebildet haben. Mitte der 1270er-Jahre hatten sich die ratsfähigen Familien zu einer regelrechten Führungsschicht zusammen- und von der übrigen Gemeinde abgeschlossen (169). Die Ergebnisse in Bezug auf die Entwicklung der städtischen Führungsschicht sind besonders hervorzuheben und auch die akribische Arbeitsweise im Umgang mit der urkundlichen Überlieferung, mit der Wolf diese Ergebnisse erzielt hat.
Der "quasiautonome Status" von Erfurt wurde im November 1289 vertraglich fixiert, als sich der Rat der Stadt mit Erzbischof Gerhard II. von Mainz über einige seit zehn Jahren strittige Punkte im Zusammenhang mit der Verpachtung von erzbischöflichen Ämtern an den Rat einigen konnte. Mit der Concordata Gerhardi fanden die Parteien einen Kompromiss, der den Bürgern weitgehende Selbstverwaltung ermöglichte und dem Stadtherrn durch Verpachtung seiner stadtherrlichen Ämter an den Rat Einnahmen sicherte (250-253).
Wolf hat nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Geschichte von Erfurt geleistet, sondern auch eine Möglichkeit aufgezeigt, wie die für das mittelalterliche Stadtbürgertum so wichtige "Formierungsphase" im 13. Jahrhundert analysiert und dargestellt werden kann. In methodischer und begrifflicher Hinsicht sind hingegen einige Defizite anzumerken. Wolf schreibt eine Geschichte der Konflikte: 1. zwischen den Bürgern in Erfurt und dem Stadtherrn, 2. zwischen dem entstehenden Rat und der Gemeinde sowie deren anderen Vertretungen (Innungen). Leider verzichtet sie darauf, ihre Begrifflichkeit feiner zu justieren. So hätte sie meines Erachtens z. B. die Unterschiede zwischen Konflikt (Interessengegensatz, der institutionell oder / und außerinstitutionell geregelt werden soll) und Unruhe (eine Form des außerinstitutionellen Lösungsversuches, die als Aufruhr oder Aufstand erscheinen kann) für ihre Untersuchungen fruchtbar machen können.
Jörg Rogge