Noyan Dinçkal: Istanbul und das Wasser. Zur Geschichte der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1966 (= Südosteuropäische Arbeiten; Bd. 120), München: Oldenbourg 2004, 325 S., ISBN 978-3-486-57565-1, EUR 49,80
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Die Geschichte der modernen städtischen Wasser- und Abwassersysteme ist sicher eines der am besten erforschten Gebiete der neueren Umweltgeschichte und hat längst Eingang gefunden in die einschlägigen Überblicksdarstellungen. Und doch sind zentrale Fragen, wie z. B. die sozialräumlichen Disparitäten bei den Netzanschlüssen als Ausdruck umweltbezogener sozialer Ungleichheit oder die Rentabilität der privaten Wasserwirtschaft erst kürzlich in den Blick der Forschung getreten. Die Dissertation von Noyan Dinçkal bringt hier, zusammen mit weiteren Ergebnissen eines Forschungsprojektes an der TU Berlin [1], nicht nur neue Erkenntnisse in der Langzeitperspektive bis in das bisher kaum untersuchte 20. Jahrhundert hinein. Sie behandelt darüber hinaus mit der Stadt Istanbul eines der faszinierendsten Fallbeispiele für eine kulturgeschichtliche Weitung des Blicks an der Schnittstelle zwischen westlicher und islamischer Kultur.
Das Buch untersucht in sieben Kapiteln drei große Perioden der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, nämlich die Krise des osmanischen Systems seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Ära der privaten Wasserunternehmen bis 1937 und die folgenden Jahrzehnte der Wasserversorgung in kommunaler Regie. Die umweltpolitisch besonders brisante Abwasserentsorgung nimmt dabei deutlich weniger Raum ein - etwa ein Fünftel des Textes - als die Wasserversorgung.
Den großen Argumentationsbogen bildet die Transformation des überkommenen osmanischen Wassersystems durch westliche Technik, die seit den 1880er-Jahren unter der Führung französischer und deutscher Unternehmen eingeführt wurde. Dabei wurde das alte System nur partiell ersetzt, sodass faktisch ein gemischtes, sozusagen "bi-kulturelles" System entstand. Dinçkal betont, dass das traditionelle osmanische System aus Dämmen und Bassins im Hinterland, Wasserleitungen und öffentlichen Brunnen, das von religiösen Stiftungen, hohen Amtsträgern und reichen Bürgern finanziert und verwaltet wurde, in der Mitte des 19. Jahrhunderts in eine schwere Krise geriet. Wassernot, Epidemien und Feuersbrünste auf Grund fehlenden Löschwassers entzogen ihm schrittweise die Legitimation (64 ff.). Ausgedehnte öffentliche Debatten mündeten schließlich in eine Konzessionserteilung an ein deutsches und ein französisches Unternehmen zum Bau zweier Wasserwerke (82 ff.). Das Resultat war allerdings keinesfalls befriedigend: Statistisch standen um 1916 nur 40 Liter pro Tag und Einwohner zur Verfügung, eine weit hinter dem Bedarf zurück bleibende Menge. Zudem waren noch 1927 gerade einmal 20% aller Grundstücke an die Wasserleitung angeschlossen (139 f.). Aus "Investorensicht" drückten die vertraglich vereinbarten kostenlosen Lieferungen für "öffentliche Zwecke" (Polizei, Krankenhäuser, Internate usw.) empfindlich auf die Renditen, hinzu kamen große Verluste aus Leckagen.
Hinter den Problemen standen, daran lässt Dinçkal keinen Zweifel, tiefer gehende kulturelle Konflikte. Islamische Hygienevorstellungen und Badekultur sowie die starke Tradition kostenloser öffentlicher Brunnen hielten sich dauerhaft und waren nur teilweise vereinbar mit den westlichen Normen und Geschäftsstrategien. Zwar votierten die städtischen Eliten für das westliche Wassersystem, doch die ärmeren Schichten konnten sich die Wasserpreise kaum leisten. Die hier berührten Grundsatzfragen zum Verhältnis von kulturellen und sozialen Konfliktlagen und deren Analyse sind weit über die Umweltgeschichte hinaus von eminentem Interesse, sodass der Autor sie noch ausführlicher hätte diskutieren können.
Die Entwicklung im 20. Jahrhundert kann hier nur angedeutet werden, obwohl das Buch weitere hochinteressante und auch brandaktuelle Vorgänge analysiert. Dazu zählen die Kämpfe um die Kommunalisierung der Werke und Entschädigungszahlungen in den 1930er-Jahren sowie die völlig neuen Herausforderungen durch das explodierende Stadtwachstum seit den 1950er-Jahren mit seinen riesigen, infrastrukturell zunächst nicht angebundenen Vorortsiedlungen, den "Gecekondus". Zusammengenommen zeigen sich zwar gewisse Analogien mit der Entwicklung in den westeuropäischen Städten - was etwa die Kommunalisierung ursprünglich privater Wasserwerke betrifft -, vor allem aber auch ganz andere Muster der Stadtentwicklung und die Grenzen der Übertragbarkeit des westlichen Modells der zentralen Wasserversorgung und Abwasserentsorgung. Deren bisher für die westeuropäischen Städte erzählte "Erfolgsgeschichte" gilt es also zu relativieren.
Die Arbeit ist materialreich aus Archivalien gearbeitet, diskutiert auch theoretische Grundsatzfragen wie das Konzept der "europäischen" und der "orientalischen" Stadt seit Max Weber und ist mit zahlreichen Abbildungen, Plänen, Tabellen und zwei Registern gut ausgestattet und erschlossen. Vor allem aber kann sie als Schlüsselwerk zur Öffnung der kulturgeschichtlichen Wasserforschung über das westeuropäische Modell hinaus dienen und sollte deshalb eine große Verbreitung erfahren.
Anmerkung:
[1] Weitere Ergebnisse aus diesem Projekt stellen vor: Noyan Dinçkal/Sharooz Mohajeri (Hg.): Blickwechsel. Beiträge zur Geschichte der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung in Berlin und Istanbul, Berlin 2001, sowie die Dissertation von Sharooz Mohajeri: 100 Jahre Berliner Wasserversorgung und Abwasserentsorgung 1840-1940, Stuttgart 2005. (Vgl. hierzu die Rezension in sehepunkte 6 (2006), Nr. 5, URL: http://www.sehepunkte.de/2006/05/9565.html)
Christoph Bernhardt