César N. Caviedes: El Niño. Klima macht Geschichte, Darmstadt: Primus Verlag 2005, 167 S., ISBN 978-3-89678-528-2, EUR 29,90
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El Niño, die periodische Erwärmung des Pazifiks, wird von den Fischern Nordperus, da sie um die Weihnachtszeit auftritt und einen tropischen Fischreichtum bringt, "das Christkind" genannt. Diese Klimavariabilität führt an den trockenen Küsten Perus zu vermehrten Niederschlägen - in anderen Regionen der Erde zu Stürmen, Hochwassern, aber auch Dürren und Bränden. "Die Wissenschaft erklärt das El Niño-Phänomen mit Hilfe der Rückkopplung (feedback) zwischen dem maritimen und dem meteorologischen System: Wenn bei dem einen Veränderungen eintreten, dann dauert es nicht lange, bis das andere System darauf reagiert. So herrscht eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Meeresströmungen, Winden und Lufttemperatur." (12)
Caviedes präsentiert neben dem Stand der El Niño-Forschung die Auswirkungen, die dieses Phänomen auf Gesellschaften verschiedenster Kontinente zu verschiedensten Zeiten hatte. In neun Kapiteln geht er der Frage nach, inwieweit El Niño "auf zahlreiche Ereignisse in der politischen, militärischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschichte unseres Planeten" (7) Einfluss ausüben konnte. Er führt in die Thematik ein, indem er anschaulich die naturwissenschaftlichen Grundlagen des Phänomens vorstellt. Danach zeigt er die ökologischen, ökonomischen wie sozialen Folgen hauptsächlich für "die Länder am Ostrand des Pazifiks", die "nicht ohne Weiteres auf Asien, Afrika oder Europa übertragen werden" können (20 f.). Im zweiten Kapitel wird eine theoretische Basis entworfen. In den weiteren sieben Abschnitten verbindet Caviedes klimatologische Aspekte mit gesellschaftlich-historischen Bezügen zu El Niño. Das Kapitel fünf, das den "Übergang von El Niño zu La Niña" (79) zum Inhalt hat, ist stärker klimatologisch, das Kapitel sechs "Spuren von El Niño in der Weltgeschichte" (91) stärker historisch ausgerichtet.
Die Ausführungen folgen einem durchgängigen Muster: Caviedes offeriert Beispiele und Belege für die Auswirkungen von El Niño. Im Kapitel drei führt er dies anhand tropischer Stürme, Winterstürmen vor Chile oder hohem Seegang in der Nordsee vor. Die trockenen Anomalien auf Grund des Phänomens werden durch Tod und Unruhen südlich der Sahara, Hunger in Indien sowie Unruhen und Missernten in Mexiko vorgeführt. Danach folgt der "Übergang von El Niño zu La Niña" (79), der mit Zyklonen und tropischen Wirbelstürmen der Vergangenheit erklärt wird. Das Kapitel sechs hat neben der Schlacht bei Stalingrad und dem Scheitern Napoleons in Russland, den Sturz Haile Selassies, Hoch- und Niedrigwasser am Nil, Unwetter während der Kleinen Eiszeit und El Niños im Fernen Osten zum Thema. Die Konsequenzen für Europa erläutert Caviedes im siebten Kapitel, wobei er von der nordatlantischen und arktischen Oszillation kommend, Katastrophen der Gegenwart und extreme Klimaereignisse im globalen Maßstab vorführt. Danach ortet er im vorletzten Kapitel "El Niño im Nebel der Vergangenheit" (129). Die Suche führt von Mega-Niños über Spuren im Eis und Seen der Anden bis zur Osterinsel. Im letzten Kapitel werden unbeantwortete Fragen diskutiert.
Caviedes mustert in allen Kapiteln klimatische Anomalien auf ihren Zusammenhang mit El Niño durch. Hierfür verwendet er einen aktualistischen Ansatz, indem er das heutige Wissen um die Konsequenzen von El Niño in die Vergangenheit projiziert. Davon ausgehend ist er der Ansicht, dass Naturkatastrophen der Vergangenheit "auch von ähnlichen atmosphärischen und ozeanischen Prozessen hervorgerufen wurden". Er betrachtet diese Methode als Ausgangspunkt für eine "akzeptable Interpretation früherer Umweltkatastrophen". Dieser Ansatz schließt jedoch nicht die Veränderungen des Klimas ein, die sich über die Jahrhunderte ergaben, insofern erklärt sich seine Einschränkung, dass die beschriebenen Krisen durch El Niño "bedingt gewesen zu sein scheinen" (29 f.). Schon im Kapitel zwei gelingt es Caviedes nicht, diese Zweifel auszuräumen. Bei der Frage, ob El Niño bei der Eroberung des Inkareiches als wesentlicher Einflussfaktor betrachtet werden kann, geht er von Vermutungen aus: "Warum sollte es sich also bei den ungewöhnlich nassen Bedingungen, die Pizarro und seine Leute in Nordperu antrafen, nicht um die Anzeichen einer Klimakrise (El Niño) handeln [...]?" (32)
Die methodische Schwäche zeigt, dass Caviedes nicht nur klimatologisch, sondern auch historisch kaum zeitimmanent argumentiert. Er nennt z. B. das klimatologisch wichtige Dalton Minimum, das unsauber datiert wird (125), erklärt die Auswirkungen aber nicht aus der Zeit heraus. Klimaverschlechterungen, die im Fall des Dalton Minimums 50 Jahre dauerten (1780-1830), können nur teilweise mit seinem aktualistischen Ansatz erklärt werden. Wenigstens fünf großräumige Klimaeinflüsse bedingten diese Abschwungphase der nordhemisphärischen Temperaturen, als dass derart vereinfachend argumentiert werden könnte. Zudem fehlen bei diesem methodischen Ansatz differenzierende Gesellschaftsbezüge. Vom Faktor Klima/El Niño ausgehend und über ein ontologisches Geschichtsverständnis eine mehrschichtige Geschehensstruktur tief gehend freizulegen, scheint nicht das Ziel von Caviedes gewesen zu sein. Dennoch versteht es der Autor in den nächsten Kapiteln, eine Evidenz zwischen El Niño und der jeweiligen Krise aufzuzeigen: Seien es die "tobenden Meere des El Niño" (39), die "Trockenheit in den Tropen" (49) oder der "Übergang von El Niño zu La Niña" (79) - die Relation zwischen dem Phänomen und den klimatischen Auswirkungen wird für unterschiedlichste Beispiele hergestellt.
Für das Kapitel sechs verlässt Caviedes diesen überzeugend wirkenden und nahezu ahistorischen Pfad. Schon der Beginn des Kapitels zeugt davon, dass er die sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft nur durchstreift hat. Er nennt und subsumiert Klimadeterministen wie Kenneth Hsü in einem Atemzug mit Hans v. Storch und Nico Stehr. Klimatologische Forschungslücken treten zu Tage, wenn er im Kapitel neun die längst revidierte Sonnenfleckentheorie von Friis-Christensen als "Hauptauslöser vieler Klimaschwankungen" (150) andenkt. Nicht nur hier macht sich die vierjährige Diskrepanz zwischen amerikanischer und deutscher Ausgabe bemerkbar. Das gilt auch für die Flut von 2002, welche zwar in die Ausgabe von 2005 aufgenommen, aber nicht mit der nachfolgenden, interdisziplinären und noch andauernden Publikationsflut verbunden wurde.
Die Beispiele im Kapitel sechs "Spuren von El Niño in der Weltgeschichte" (91) sind eigentümlich gewählt. Die Ausführungen über die Schlacht bei Stalingrad und Napoleons Scheitern in Russland zeugen von wenig Fingerspitzengefühl, denn indem Caviedes die Komponente Wetter derart in den Vordergrund rückt, verschafft er denjenigen, die eine Unbesiegbarkeit deutscher Truppen argumentativ unterfüttert sehen möchten, ein unzulässiges Instrument. Letztlich werden dem vielschichtigen Scheitern Napoleons und dem Wahn Hitlers unter der Profanie "von menschlicher Unzulänglichkeit mit einem extremen Klimaereignis" (99) der Boden entzogen. In ähnlicher Weise bindet Caviedes im Kapitel neun die Französische Revolution an die vorangegangen Klima- und Nahrungsmittelkrisen.
In den Kapiteln sieben und acht kehrt Caviedes zum Muster der Anfangskapitel zurück. Je mehr er sich auf das Klimatologische beschränkt, desto überzeugender ist seine Argumentation - im gesamten Buch. Hierbei löst er sich nicht davon, Belege zu sammeln, wie El Niño gesellschaftliche Strukturen beeinflusst. Er fokussiert zu sehr, was die Argumentation mitunter einseitig und voraussehbar macht. Dem durchgängigen Muster, nach Beispielen und Belegen für die Auswirkungen von El Niño zu suchen, kann als Gegenbeweis eine andere Region, ein weiterer Zeitausschnitt entgegengehalten werden, dem El Niño seinen Stempel nicht aufdrückte. Das angesprochene Dalton Minimum zwischen 1780 und 1830 hält hierfür vieles offen. Es kann z. B. für die europäische Hochwasserkatastrophe 1783/84 verantwortlich gemacht werden. Zusätzlich steht diese Katastrophe in Zusammenhang mit El Niño. Das Phänomen stärker in einen allgemeinen Klimakontext zu stellen, dort zu verorten und multikausale (gesellschaftliche) Muster zu offenbaren, hat Caviedes versäumt.
In den offenen Fragen seines letzten Kapitels führt Caviedes diverse Klimaeinflüsse auf, die zu einem starken El Niño-Ereignis führen und stellt fest: "Nur wenn alle diese Zyklen ihren Höhepunkt um die gleiche Zeit erreichen, ist mit einem starken El Niño-Ereignis zu rechnen." (150) Dieser Hinweis erfolgt zu spät und hätte als Leitfaden für die Untersuchung dienen können. Die zuvor vermisste Differenzierung zwischen verschiedenen Klimafaktoren wird dem Leser als Schlaglicht auf den Weg gegeben. Ein aktualistischer Ansatz wird mit determinierenden Argumentationen ausgeführt, womit der Anspruch nicht eingelöst wird, das Phänomen mit Geschichte zu verbinden. Die klimatischen Auswirkungen von El Niño erläutert Caviedes umfassend, die historischen werden unter einem Brennglas eingeschmolzen.
Guido Poliwoda