Henry Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR (= Analysen und Dokumente; Bd. 28), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 448 S., ISBN 978-3-525-35018-8, EUR 29,90
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Christian Dirks: Die Verbrechen der anderen. Auschwitz und der Auschwitz-Prozess der DDR. Das Verfahren gegen den KZ-Arzt Dr. Horst Fischer (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 406 S., ISBN 978-3-506-71363-6, EUR 39,90
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Seit Anfang der Neunzigerjahre erste Dokumente in der Presse auftauchten, die auf eine gezielte Straffreistellungs- und Vertuschungspraxis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gegenüber in der DDR lebenden NS-Tatverdächtigen hindeuten, ist die Debatte über diesen Teil ostdeutscher Vergangenheitspolitik nicht mehr abgerissen. In den letzten Jahren sind jedoch einige Studien entstanden, die zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen konnten. Hervorzuheben ist insbesondere das mehrbändige IfZ-Projekt "Die Errichtung der Klassenjustiz nach 1945 in der SBZ/DDR in diktaturvergleichender Perspektive", das sich u. a. mit der Frage auseinandersetzt, inwieweit die von SMAD und SED beabsichtigte Instrumentalisierung der NS-Strafverfolgung in den ersten Nachkriegsjahren praktisch umgesetzt wurde. Henry Leides umfangreiche Monografie zur "geheimen" Vergangenheitspolitik der DDR-Staatssicherheit knüpft an den herrschaftsgeschichtlichen Ansatz dieser Arbeiten an, spitzt ihn allerdings auf einen zentralen Aspekt zu. Sein Buch beschäftigt sich hauptsächlich mit der "verhüllten Kehrseite" des vermeintlichen "antifaschistischen Musterstaates", verkörpert durch den omnipräsenten, hinter den Kulissen agierenden Staatssicherheitsapparat.
Leides Publikation besticht zunächst durch ihre Materialfülle. In mühevoller Kleinarbeit hat der Autor - ein Mitarbeiter der Abteilung "Bildung und Forschung" bei der BStU - zahllose Personendossiers und Untersuchungsvorgänge aus dem ehemaligen MfS-Zentralarchiv und dem geheimen NS-Archiv der Staatssicherheit auswerten können. Neben weiteren MfS-Archivalien stützt sich Leides Arbeit auf Unterlagen der DDR-Generalstaatsanwaltschaft und verschiedener Parteieinrichtungen. Auch westdeutsche Parallelüberlieferungen hat der Autor hinzugezogen, darunter einzelne Ermittlungsvorgänge aus den Beständen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen (ZStL) in Ludwigsburg sowie Personenunterlagen aus dem früheren Berlin Document Center.
Leide nimmt drei Bereiche in den Blick, um die Besonderheiten der "tschekistischen" Vergangenheitspolitik zu verdeutlichen: die justizielle Verfolgung bzw. Nichtverfolgung von Tatverdächtigen, die Aktensuch- und -sammelpolitik sowie die klassische Spionage- und Abwehrarbeit des MfS. Spätestens seit Mitte der Sechzigerjahre hatte sich die Staatssicherheit auf den drei genannten Feldern eine Vormachtstellung erkämpft. Zwar blieb die SED-Parteiführung auch weiterhin für die Grundlinien ostdeutscher Vergangenheitspolitik zuständig. Die Planung, Koordinierung und Umsetzung der diversen Einzelaktivitäten lag jedoch weitgehend bei den MfS-Einheiten. Durch die Konzentrierung von geheimdienstlichen und juristischen Aufgaben sollte sichergestellt werden, dass sicherheitspolitische Erwägungen in der praktischen Arbeit Vorrang erhielten, während Aufklärung und Sühne schwerer Verbrechen aus der Perspektive des MfS oftmals nur nachgeordneten Stellenwert besaßen. Grundsätzlich wirkte sich diese Prioritätensetzung dahingehend aus, dass die Offenlegung einer NS-Belastung in der Regel nur dann erfolgte, wenn sich der Geheimdienst vergewissert hatte, dass der DDR daraus keine innen- oder außenpolitischen Legitimitätsschäden erwachsen konnten.
Im ersten Abschnitt gibt Leide zunächst einen Überblick zu strukturellen und politischen Voraussetzungen der MfS-Ermittlungs- und Archivierungsarbeit. Die stärkere Einbeziehung deutscher Polizeibehörden bei der Aufspürung und Identifizierung von NS-Belasteten ging auf den SMAD-Befehl Nr. 201 vom 16. August 1947 zurück. Dieser sah vor, "Untersuchungsorgane" einzusetzen, die in den folgenden zwei Jahren in größerem Umfang tatsächliche und vermeintliche "Kriegsverbrecher und Faschisten" festnahmen. Nach der Staatsgründung, als der Elan bei der juristischen Aufarbeitung spürbar nachließ, entwickelte sich das 1950 gegründete MfS dann nach und nach zu einer zentralen Sammel- und Clearingstelle für all jene Unterlagen, die irgendeinen Bezug zur NS-Vergangenheit aufwiesen.
Während Leide die "antifaschistische" Kampagnenarbeit von SED und MfS nur am Rande behandelt, widmet er sich ausführlich den Rekrutierungsversuchen im Milieu der "alten Kameraden". Anhand einer Vielzahl von Einzelbeispielen widerlegt Leide zunächst die DDR-Propagandathese, nach der sich vor allem hochrangige Täter bereits unmittelbar nach Kriegsende in die Westzonen abgesetzt hätten. Er beschreibt, wie das MfS ehemalige Gestapo- oder SD-Angehörige oftmals in Kenntnis ihrer früheren Funktionen anwarb, um sie - teilweise in Absprache mit sowjetischen Stellen - als geheime Informanten einzusetzen. Dabei wurde die bekannt gewordene NS-Belastung in der Regel als Druckmittel eingesetzt, um die Betroffenen zur Mitarbeit zu zwingen. Der Typus der Belastung spielte für die Rekrutierung nur insofern eine Rolle, als Zugehörigkeit zu nationalsozialistischen Polizeibehörden und Geheimdiensten grundsätzlich als Indiz für hohe Effektivität gewertet wurde. Ob sich die frühere Tätigkeit des Kandidaten vorwiegend gegen Kommunisten, Juden oder andere NS-Verfolgte gerichtet hatte, war hingegen unerheblich. Genauere Nachforschungen zu vor 1945 verübten Verbrechen unterblieben vielfach, weil dies aus Sicht des MfS einen Zielkonflikt verursacht hätte.
Leide macht deutlich, dass sich auch die angelsächsischen und sowjetischen Geheimdienste der Mitarbeit hochkarätiger SS-Angehöriger versicherten. Im Fall der beiden deutschen Staaten hatte diese Rekrutierungspraxis allerdings eine besondere Dimension, da damit nicht nur abgeschottete Schutzräume für Nazi-Seilschaften geschaffen wurden, sondern dies auch zu einer Verfestigung wechselseitiger Feindbildkonstruktionen führte. So lieferte etwa der hohe Anteil ehemaliger SD-Angehöriger in der "Organisation Gehlen" der Staatssicherheit einen Vorwand, ihrerseits schwer belastete Personen als Agenten anzuwerben, um bereits bestehende Spionagezirkel zu unterwandern. Obwohl Leides Buch viele neue Informationen zu personellen Netzwerken und deutsch-deutschen Querverbindungen enthält, bleibt die Darstellung an dieser Stelle etwas blass. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Erkenntnisse im Wesentlichen auf MfS-Akten beruhen, diese aber zumeist nur Hinweise auf Intentionen und Strategien der Werber liefern. Abgesehen davon, dass die beabsichtigte Unterwanderung von SS-Seilschaften offenbar im Großen und Ganzen recht erfolgreich verlief, erfährt man leider zu wenig über die praktischen und ideologischen Rückwirkungen dieser Art von Abwehrarbeit.
Zu den vielen Paradoxien des deutsch-deutschen Verhältnisses auf dem Gebiet der Vergangenheitsaufarbeitung gehört, dass die DDR mit ihrer Propaganda gegen die "renazifizierte" Bundesrepublik einen entscheidenden Impuls für die Aufnahme systematischer NS-Ermittlungen lieferte, während in der DDR zunächst entsprechende Nachforschungen zu einzelnen Verbrechenskomplexen unterblieben.
Die wenigen NS-Prozesse, die in den Jahren zwischen 1960 und 1989 vor DDR-Gerichten geführt wurden - insgesamt waren nicht mehr als 114 rechtskräftige Urteile zu verzeichnen -, waren laut Leide überwiegend "Vorzeigeprozesse", denen die propagandistische Funktion zukam, den von der DDR beanspruchten Nimbus der Unnachgiebigkeit zu belegen. Verkürzt gesagt, ging es den MfS-Ermittlern weniger darum, NS-Täter zu fassen als den ideologischen Gegner bloßzustellen. Leides Fallstudien widerlegen eindrücklich die These des renommierten niederländischen Strafrechtlers Christiaan F. Rüter, der den DDR-Sicherheits- und Justizorganen generell einen konsequenten Aufklärungswillen und Akribie bei der konkreten Ermittlungsarbeit bescheinigt. Neu ist hingegen der Befund, die Ermittler hätten nach dem Ende der Großen Koalition in Bonn ihren Fokus geändert, indem sie gezielt und teilweise auch systematisch die Verbrechen niederer Dienstgrade im Rahmen des nationalsozialistischen Rasse- und Vernichtungsfeldzuges aufgeklärt hätten.
Henry Leides Studie zur geheimen Vergangenheitspolitik des MfS ist eine wahre Fundgrube an Personen- und Sachinformationen. Positiv hervorzuheben ist besonders, dass der Autor keine moralisierende "Enthüllungsgeschichte" auf der Grundlage von Geheimdienstakten schreibt, sondern eine flüssig geschriebene Darstellung zu einem zentralen Bereich ostdeutscher Aufarbeitungsgeschichte vorgelegt hat, die eine Reihe anschaulicher Einzelfälle in überzeugender Weise mit institutionengeschichtlichen Aspekten verknüpft. Angesichts der Tatsache, dass sich eine breitere Forschung zu dem Thema erst noch entwickeln muss, wäre es allerdings wünschenswert gewesen, wenn der Studie ein (nach Namen und Signaturen geordnetes) Quellenverzeichnis hinzugefügt worden wäre.
Eine ideale Ergänzung zu Leides Längsschnittuntersuchung stellt Christian Dirks' lesenswerte Fallstudie zum DDR-Strafverfahren gegen den früheren stellvertretenden SS-Standortarzt des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz dar. Das 1965 durchgeführte Verfahren gegen Dr. Horst Fischer eignet sich insofern für eine exemplarische Betrachtung des justiziellen "Antifaschismus" in der DDR, als der Fall von der DDR-Rechtspropaganda stets als Paradebeispiel für eine gelungene und konsequente Aufarbeitung von NS-Unrecht herausgestellt wurde.
Ausgehend von der Feststellung, die neuere NS-Täterforschung habe die Gruppe der SS-Ärzte noch gar nicht recht als lohnenswerten Untersuchungsgegenstand entdeckt, während die etablierte NS-Medizinforschung teilweise noch mit den naiven Denkkategorien einer längst überholten Psychohistorie operiere, verfolgt Dirks den Anspruch, die methodisch innovativen Ansätze der jüngeren Holocaust-Forschung anhand eines quellenmäßig gut belegten Einzelfalls zu erproben. Letztere hat sich bekanntlich zum Ziel gesetzt, die Handlungsmotivationen einzelner Täter und Täterkollektive zu erkunden, indem sie - ausgehend von konkreten Akteurstypen und situativen Bedingungen - die Makro-Ebene parteistaatlicher Politikprogramme mit der Meso-Ebene der gesellschaftlichen Institutionen und der Mikro-Ebene des sozialen Handelns miteinander in Bezug setzt.
Als Quellengrundlage stand hauptsächlich der umfangreiche "Zentrale Untersuchungsvorgang (ZUV) 84" aus den Beständen des BStU zur Verfügung, der sowohl für die Rekonstruktion der Täterbiografie wie für die Nachgeschichte der juristischen Aufarbeitung ausgewertet wurde. Auf Grund seiner genauen Kenntnisse der Ermittlungs- und Verfahrensakten im großen Frankfurter Auschwitz-Prozess gelangt Dirks zu der Einschätzung, die Vernehmungsprotokolle Fischers seien die mit Abstand "umfangreichsten Äußerungen" (25), die überhaupt von einem ehemaligen KZ-Arzt überliefert seien. Wichtige Ergänzungen stellen die privaten Nachlässe des früheren SS-Standortarztes und Fischer-Vorgesetzten Dr. Eduard Wirths und der beiden Häftlingsschreiber Hermann Langbein und Karl Lill dar, die teilweise erstmals unter wissenschaftlichen Fragestellungen ausgewertet werden.
Die Darstellung setzt sich aus drei großen Abschnitten zusammen. Der erste Teil gibt einen kursorischen Überblick zur Entwicklung der sowjetischen und deutschen Strafverfolgungspolitik seit Beginn der Nürnberger Prozesse. Im zweiten Teil schildert Dirks ausführlich den Lebensweg des SS-Mediziners Fischer. Gezeichnet wird das widersprüchliche Porträt eines Mannes, der auf Grund seiner Familiengeschichte und seines gesellschaftlichen Umfeldes schon früh Affinitäten für die radikale Judenfeindschaft der Nationalsozialisten entwickelte, sich aber trotzdem bis zum Schluss nicht vollständig mit den Zielen des Mordprogramms an den Juden identifizieren konnte. Auf der Grundlage von Fischers späteren Selbstauskünften und Aussagen ehemaliger Opfer unternimmt der Autor den Versuch, die Handlungs- und Ermessensspielräume der Auschwitzer Standort-Ärzte auszuloten. Fischer und seine Kollegen, so das Fazit des Buches, hätten eine Sonderstellung innerhalb der Hierarchie der Konzentrationslager eingenommen, die mit überdurchschnittlich großen Freiräumen verbunden gewesen sei. Sie seien insofern als "Profiteure des Unrechts" anzusehen, als sie eigenverantwortlich "wilde" Menschenversuche in Monowitz durchgeführt hätten, um sich professionelle Vorteile im Hinblick auf eine erhoffte Nachkriegskarriere zu verschaffen.
Der letzte Teil des Buches behandelt das Ermittlungsverfahren und den Prozess vor dem Obersten Gericht der DDR. Ebenso wie Leide betont auch Dirks die präjudizierende Rolle des MfS als geheimpolizeilichem, mit extralegalen Methoden operierendem Untersuchungsorgan. Die Staatssicherheit beobachtete Fischer zwar bereits seit Ende der Fünfzigerjahre wegen "Westkontakten"; da sie auf Grund einer eklatanten Unterschätzung des DDR-eigenen Täterproblems aber keine systematischen NS-Ermittlungen (etwa nach dem Vorbild der Ludwigsburger Vorermittlungsstelle) betrieb, dauerte es noch bis Anfang 1965, ehe der unter seinem richtigen Namen im brandenburgischen Spreenhagen praktizierende Landarzt identifiziert wurde. Die Festnahme erfolgte dann am 11. Juni 1965, wurde jedoch erst drei Monate später in den DDR-Medien bekannt gegeben.
Der Grund dafür war zum einen, dass das MfS kurz zuvor von den polnischen Sicherheitsbehörden darüber informiert worden war, dass die Frankfurter Staatsanwaltschaft seit 1960 gegen den KZ-Arzt ermittle. Zum anderen war geplant, den Fall Fischer als propagandistische Trumpfkarte für den zweiten Frankfurter Auschwitz-Prozess zu nutzen, nachdem die DDR ihre Strategie im ersten Verfahren nicht vollständig hatte umsetzen können. Gemäß der Vorgaben der HA IX/10, den Fischer-Prozess als Schauprozess durchzuführen und gegen ihn die Todesstrafe zu verhängen, wurde Fischer nach zehntägiger Verhandlung am 25. März 1966 zum Tode verurteilt. Unbeabsichtigte Ironie dieses ansonsten akribisch geplanten Verfahrens war, dass der Direktor des Hygiene-Instituts der medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität, der renommierte Sozialhygieniker Kurt Winter, als einer der historischen Sachverständigen auftrat: Winter, der in seiner früheren Funktion als Chef des Provinzialgesundheitsamtes Brandenburg für die Entnazifizierung der Ärzteschaft zuständig gewesen war, trug ein gerüttelt Maß an Verantwortung dafür, dass nach dem Krieg viele hoch belastete NS-Mediziner im Land Brandenburg Unterschlupf gefunden hatten.
Dirks' Untersuchung kommt das Verdienst zu, die politisch-ideologischen Rahmenbedingungen der NS-Strafverfolgung in der DDR erstmals anhand eines prägnanten Fallbeispiels in dichter Weise beschrieben zu haben. Der besondere Beitrag des MfS, dessen elitäres Selbstverständnis als Ideologiepolizei auf allen Verfahrensstufen handlungsleitend war, wird präzise herausgearbeitet. Mit den untersuchten Bevölkerungsreaktionen auf den Prozess tritt zudem ein wichtiges Thema in den Blick, das in der bisherigen Literatur fast völlig vernachlässigt wird. Auf der anderen Seite bleibt allerdings zu fragen, ob der Erkenntnisgewinn der Studie nicht höher hätte ausfallen können, wenn sich Dirks um eine intensivere Auseinandersetzung mit der vorhandenen Literatur bemüht und - darauf aufbauend - sein Forschungsinteresse vermehrt auf unerschlossene Bereiche gelenkt hätte: Denn während die Ausgangsthese einer politischen Instrumentalisierung der ostdeutschen NS-Strafverfolgung in Fachkreisen im Grunde kaum noch bestritten wird, ist über den spezifischen Umgang mit einzelnen Täter- und Deliktgruppen immer noch viel zu wenig bekannt.
Im Hinblick auf die proklamierte Repräsentativität des Falls Fischer wäre es erforderlich gewesen, sich dezidiert mit der komplexen Problematik der Medizinverbrechen und deren juristischer Behandlung seit 1945 zu befassen, lassen sich doch nur vor diesem Hintergrund eventuelle Besonderheiten in der Verfahrensbearbeitung klären. Auch die Darstellung der Rezeptionsgeschichte hätte sicherlich dadurch gewonnen, wenn sich Dirks entschlossen hätte, das komplizierte, relativ gut erforschte Verhältnis zwischen Staatsführung und Ärzteschaft genauer in den Blick zu nehmen. So lässt die Tatsache, dass selbst hochbelastete SS-Mediziner von dem chronischen Ärztemangel in der DDR profitieren konnten, darauf schließen, dass dieser Tätergruppe ein vergangenheitspolitischer Sonderstatus zukam. Trotz dieser konzeptuellen Mängel ist die Studie jedoch in zweifacher Hinsicht ein Gewinn: Sie macht auf eine weit gehend vernachlässigte Tätergruppe aufmerksam und vervollständigt unser Bild vom justiziellen Antifaschismus.
Annette Weinke