Philipp Neumann-Thein: Parteidisziplin und Eigenwilligkeit. Das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos, Göttingen: Wallstein 2014, 629 S., 61 Abb., ISBN 978-3-8353-1303-3, EUR 39,90
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In den ersten Nachkriegsjahrzehnten blieb es weitgehend den Überlebenden selbst überlassen, die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager zu schreiben. Epochale Werke wie Eugen Kogons "Der SS-Staat" und das ebenfalls 1946 publizierte "L'univers concentrationnaire" aus der Feder des französischen Buchenwald-Häftlings David Rousset dominierten nicht nur die Historiografie zu den Lagern und deren Nachgeschichte, sondern auch deren öffentliche Wahrnehmung in Politik, Medien und Kultur. Obwohl sich die Forschungslage seit den 1990er-Jahren in vielerlei Hinsicht verbessert hat, ist die Erforschung der Akteursebene im Ganzen unbefriedigend geblieben. In der französischen und englischsprachigen Literatur konzentriert sich das Interesse zumeist auf wenige prominente Figuren wie Rousset oder Germaine Tillion, die in ihrer Rolle als anti-totalitäre Intellektuelle vorgestellt werden. Diese Forschungen, die den Pfaden der "New Intellectual History" folgen, sind zwar in der Regel stimulierend. Abgesehen von einer Einbettung in die Geschichte des Kalten Krieges fehlt es aber oft an einer adäquaten Verzahnung von Erfahrungs- und Gedächtnisgeschichte sowie an einer Perspektive, die den transnationalen Dimensionen der nach 1945 entstehenden Häftlingsorganisationen und Erinnerungskollektive gerecht wird.
Philipp Neumann-Theins Pionierstudie zum Internationalen Verbindungskomitee der ehemaligen Buchenwald-Häftlinge (seit 1964: Internationales Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos / IKBD) bewältigt diese methodologischen Herausforderungen in einer Weise, die man mit Fug und Recht als mustergültig, ja als maßstabsetzend bezeichnen kann. Dabei gehört es zu den besonderen Vorzügen dieser quellenreichen Längsschnittuntersuchung, dass der Autor sie bereits in der letzten Kriegsphase einsetzen lässt. Im Rahmen eines komprimierten, aber faktenreichen Überblicks gelingt es ihm, die spezifische Rolle kommunistischer (Funktions-)Häftlinge in der nationalsozialistischen Lagergemeinschaft herauszuarbeiten und die realgeschichtlichen Grundlagen der vermeintlich am 11. April 1945 stattfindenden "Selbstbefreiung" unter kommunistischer Führung freizulegen.
Deutlich wird, dass die relativ reibungslose Übernahme von Schlüsselpositionen innerhalb der SS-Lagerverwaltung und der Aufbau eines transnationalen, konspirativen Widerstandsnetzwerks in gewisser Weise zwei Seiten derselben Medaille waren. Eigenschaften wie die unhinterfragte Orientierung an einer nur scheinbar verbindlichen Parteilinie und ein seit den 1920er-Jahren verinnerlichtes "Kasernenhofdenken" (36) ermöglichten es den Kommunisten nicht nur, sich besser in den Lagerstrukturen zurechtzufinden, sondern langfristig sogar davon zu profitieren. Diese im Vergleich zu anderen Häftlingen privilegierte Stellung stellte zwar die Grundvoraussetzung für eine halbwegs effektive Selbsthilfe und Gegenwehr dar, sie hatte aber auch einen hohen Preis: So gehörte es zu den immanenten Perfidien des nationalsozialistischen Lagersystems, dass Widerstand und Solidarität zugunsten der kommunistischen Häftlingsgruppe in vielen Fällen zu Lasten anderer, nichtorganisierter Häftlingsgruppen ging.
Wie Neumann-Thein im Weiteren darlegt, war es unter anderem dieser "partiellen Verstrickung" (543) in nationalsozialistische Massenverbrechen geschuldet, dass sich bereits vor Kriegsende ein relativ fester Kanon an selbststilisierenden Mythen und Legenden herausbildete. Nach dieser Lesart kann man das kommunistische Häftlingsnarrativ, wie es erstmals im berühmten Buchenwald-Schwur vom 19. April 1945 öffentlich zum Ausdruck kam, auch als Medium kollektiver und individueller Selbstentlastungsstrategien deuten. Damit einher ging allerdings eine weiterhin offen zur Schau getragene Verachtung gegenüber sogenannten "Muselmännern" und "Mülltonnenadlern" (157), welche in den zahlreichen Erinnerungsschriften vielfach als Häftlinge zweiter Klasse abqualifiziert wurden. Für die durchaus heterogene Gruppe der kommunistischen Buchenwalder stellte das Narrativ zudem eine erinnerungskulturelle Klammer dar, mit der sich die teilweise recht erheblichen Unterschiede in den Hafterfahrungen überspielen ließen, die sich aus Nationalität, Alterskohorte und ethnischer Zugehörigkeit ergaben. Dies erklärt, warum sich auch die französischen Ex-Häftlinge rückwirkend in die Erzählung des Schwurs einschrieben, obschon sie doch bereits am 18. April aus Deutschland ausgeflogen worden waren.
Spätestens mit Beginn des "Kalten Krieges" entwickelte sich das heroische Bekenntnis zu proletarischer Solidarität und Antifaschismus außerdem zu einer geschichtspolitischen Waffe, die dazu diente, den sich verstärkenden Angriffen auf das kommunistische Häftlingskollektiv standzuhalten. Aufgrund der politischen Veränderungen in Ost und West wurden kommunistische Überlebende des Lagers Buchenwald zur Zielscheibe vielfältiger Kritik. Besonders einschneidend wirkten sich Abspaltungsprozesse innerhalb der zunächst noch grenzübergreifend agierenden Häftlingsverbände aus. Nicht selten ging dies mit einer recht robusten antikommunistischen Agitation einher, an der sich auch prominente ehemalige Buchenwalder beteiligten, die sich entweder vom Stalinismus abgewandt oder aber die düsteren Kehrseiten des kommunistischen Lagerwiderstands kennengelernt hatten. Mit dem 1947 erfolgten Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kominform wurde die Lage dann für einzelne Häftlinge regelrecht bedrohlich. Wie viele andere europäische Kommunisten gerieten sie in die Mühlen der innerparteilichen Säuberungen, die zu Funktionsverlust, langjähriger Haft oder auch der Ermordung durch die staatlichen Sicherheitsorgane führen konnten. Als ein besonders tragisches Beispiel kann der Fall des 1909 geborenen jugoslawischen KP-Mitglieds Janez Ranzinger gelten: Zusammen mit seinem Landsmann Vekoslav Figar wurde dieser im Juni 1949 in einem Schauprozess in Ljubljana zu einer fast zwanzigjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und trotz Interventionen früherer Mithäftlinge erst Jahrzehnte später rehabilitiert.
Bezeichnenderweise begann sich die politische Marginalisierung des Buchenwald-Komitees erst Anfang der 1960er-Jahre aufzulösen, als sich die DDR mithilfe des Mauerbaus eine innenpolitische Atempause verschafft hatte und westdeutsche Initiativen für eine Abschwächung des Systemkonflikts sorgten. Das nun gegründete IKBD konnte sich nach und nach als Träger der staatsoffiziellen Erinnerungskultur etablieren und avancierte in den 1970er- und 1980er-Jahren sogar zu einem der wichtigsten Akteure. In diese Zeit fiel auch der Wechsel an der Verbandsspitze, die traditionellerweise von einem französisch-deutschen Tandem besetzt war. Mit dem plötzlichen Tod des langjährigen Vorsitzenden Marcel Paul und der Wahl seines Amtsnachfolgers Pierre Durand fand nicht nur ein Stabwechsel von der ersten zur zweiten Häftlingsgeneration, sondern auch eine wichtige programmatische Neuorientierung statt. Denn während das Komitee einerseits unbeirrt an seinem Credo festhielt, eine lebende Beglaubigung für den Kampf gegen (Neo-)Faschismus, Krieg und nukleare Aufrüstung zu sein, bemühte sich vor allem Durand hinter den Kulissen um eine vorsichtige Öffnung gegenüber anderen Opfergruppen, die das hermetische kommunistische Lagernarrativ bis dahin ausgegrenzt hatte.
Wie Neumann-Thein schreibt, waren der Generationenwechsel und die langfristig verfolgte Öffnung letztlich auch ausschlaggebend dafür, dass das Komitee nach dem Zusammenbruch der DDR zeitweise sogar einen erinnerungskulturellen Bedeutungszuwachs erfuhr. Durch den Brückenschlag zu den jüdischen Verbänden in den USA und Israel, die Einbeziehung neuer Häftlingsgruppen (Sinti / Roma, Frauen) sowie durch eine gezielte Strategie der Internationalisierung konnte das IKBD jenen geschichtspolitischen Einflussverlust kompensieren, der sich aus der nun unvermeidlich gewordenen Erosion der vormals staatsoffiziellen heroischen Widerstandserzählung ergab.
Annette Weinke