Silvia Montiglio: Wandering in Ancient Greek Culture, Chicago: University of Chicago Press 2005, xi + 290 S., ISBN 978-0-226-53497-8, GBP 31,50
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Bücher zum Unterwegssein haben Konjunktur. Beschäftigt sich die publizistische Öffentlichkeit mit der "neuen Völkerwanderung" (SPIEGEL-Titel) auf dem "Planet[en] der Nomaden" (Karl Schlögel), sind die traditionellen Themen Wanderung und Kolonisation in der Althistorie unter dem Lemma Migration zusammengeflossen. [1] Silvia Montiglio, die an der University of Wisconsin Classics lehrt, geht es jedoch nicht um die realhistorischen Phänomene, ihre Studie ist vielmehr geistesgeschichtlich ausgerichtet. Dabei definiert sie "wandering" präzise: Anders als das Reisen, bei dem die Bewegung eine notwendige und definierte Verbindung zwischen Aufbruch- und Zielpunkt darstellt, steht bei "wandering" die Bewegung an sich im Vordergrund, nicht das Ziel oder die Route. Das 'New Oxford Dictionary of English' definiert es als "[to] walk or move in a leisurely, casual, or aimless way". Umherzuziehen ist Sache von Verstoßenen und von Weisen, von Göttern und von Wahnsinnigen. Der "wanderer" leidet oder er gelangt zu einer höheren Form des Seins; er definiert sich durch Erzählen von sich selbst, dadurch vermag er zu faszinieren - oder er wird als Lügner betrachtet ("intrinsic fictionality of wandering", 252). Montiglio hält generell die Paradoxien ihres Themas gut aus. Solon ist weiträumig unterwegs, um die Welt zu sehen, und wird u. a. deshalb von Kroisos hoch geschätzt, doch die glücklichsten Menschen, die er diesem auf Nachfrage vorstellt, waren ortsfeste Polisbürger, und von ihnen zu hören und zu erzählen bedurfte es keiner Reise an den Rand der Oikumene (134 f.).
Die Kapitelfolge bietet nur wenig Orientierung; die Epochen, Autoren oder Gattungen säuberlich geordnet nach ihren Einstellungen und Äußerungen zum Thema durchzukämmen hätte wohl Thema und Geist des Buches konterkariert. Zwar gibt es am Ende ein längeres Kapitel zum griechischen Roman mit Interpretationen einzelner Werke, doch überwiegend werden thematische Felder abgesteckt: "wandering in space and time", "wandering" als Quelle von Schmerz und Verlust, als Teil der condicio humana, das Umherziehen der Götter und der Weisen, "wandering" als Sammeln von Wissen in der ionischen historiê, der geradlinige oder mäandrierende Weg des Philosophen zur Erkenntnis, Heimatlosigkeit als Lebensform der Kyniker und der Kosmopolitismus der Zweiten Sophistik und des Stoizismus. Immer wieder geht Montiglio auch von Wortbedeutungen aus und nutzt etymologische Verwandtschaften, um überraschende Brücken zu schlagen. Zwischen den Skythen und Dio Chrysostomus sind ihr die Wege sehr kurz. Dabei überrascht es nicht, dass immer wieder die Figur des Odysseus eine wichtige Rolle spielt, wobei Montiglio einer pragmatischen Hermeneutik folgt: Weil Odysseus in seiner Geworfenheit wie in seiner Größe für die späteren Griechen eine Leitfigur darstellte, kann auch die Interpretation aller späteren Texte auf Melodien zurückgreifen, die zuvor dem homerischen Epos abgelauscht worden sind. [2]
Historische Phänomene im engeren Sinn kommen nur selten zur Sprache (z. B. die Einheit von Geschenketausch, Handel und Raub im frühen seefahrenden Griechenland, 108; die Protokolonisation im 8. Jahrhundert, 125; die Kolonisation, 228) oder auch nur als Bewusstseinsinhalte (z. B. Nomadentum, 12 f.); von Phänomenen wie dem Söldnertum oder der Hikesie liest man wenig oder gar nichts. Mitunter weist Montiglio auf die Differenz zwischen Diskurs und Praxis hin: Während in der Literatur das Exil als unbehauste Jammerexistenz am Rande der Welt und des Lebens erscheint, war in Wirklichkeit geduldete und halbwegs komfortable Sesshaftigkeit durchaus nicht selten. Auf einer anderen Ebene liegt die Vorstellung vom menschlichen Leben als einer Wanderung. Einige Götter - nicht Zeus - streifen umher, weil es ihnen gefällt; dem Menschen ist diese Existenz verhängt. Das gilt auch für Odysseus; seine Irrfahrt ist insofern nicht allein Strafe für seine Hybris, die Heimkehr verdankt er gewogenen Göttern. Instruktive Beobachtungen zum Umherziehen des Dionysos geben der komplexen Gestalt dieses Gottes weitere Kontur.
Eine Achse des Buches bildet die Beziehung zwischen "wandering", Wissen und Wahrheit. Für Zuhörer musste die Wirklichkeit einer Wegschilderung immer fraglich sein, weil meist Zeugen und eigene Beobachtungen fehlten. Insofern der "wanderer" von Dingen jenseits des Alltagswissens berichtet, können seine Erzählung und sein Wissen Verehrung oder Misstrauen finden; es kommt auf die Autorität des Sprechers und die Qualität des Vortrags an (Homer, Odyssee 11,363-369). Sehr unterschiedlich sind auch die Konzeptionen der verschiedenen Vertreter der geistigen Elite bzw. deren polemische gegenseitige Wahrnehmung. Sie ziehen entweder - wie die Sophisten - umher, um mit ihrer Virtuosität auf den Bühnen der Welt Geld zu verdienen oder um zu lernen oder - wie die Vertreter der ionischen historiê - geografisch-ethnografisches Wissen zu erwerben. Erhellende Bemerkungen gelten dem Katalog als der adäquaten Darstellungsform von Wahrheit (142 ff.). Überstrapaziert und übermetaphorisiert erscheint das titelgebende Konzept hingegen, wenn Sokrates als "wanderer" innerhalb Athens und als Flüchtling aus seinem als unzureichend erwiesenen Wissen vorgestellt wird. Gleichzeitig rekonstruiert Montiglio ausführlich die philosophischen Standpunkte vor und nach Sokrates zwischen den wesentlichen Eckpunkten: Vielwisserei, äußeres Umherstreifen zur Befreiung von allem Hinderlichen, innerer Aufstieg zum wahren Wissen. Keine Option stellte dagegen die völlige Weltentsagung dar: "Most Greek philosophers and men of learning wander to meet other men" (265); selbst der unstete Kyniker war kein Asket in der Wüste. Insofern brachte das Christentum - bei allen sonstigen Verbindungslinien - hier eine wirklich neue Möglichkeit auf.
"Wandering" war von der Odyssee bis in den kaiserzeitlichen Roman verbunden mit Entortung, Desorientierung und Verlust, es versprach aber gleichzeitig Zugang zu ansonsten unzugänglichen Quellen des Wissens und Durchbrüchen zum eigenen Selbst (263). Dieses Ergebnis kann in solcher Allgemeinheit nicht überraschen. Doch der Gewinn liegt auch hier im Detail. Historiker, sofern sie nicht überwiegend auf Diskurse fixiert sind, werden wohl seltener zu dem (elegant geschriebenen und sauber hergestellten) Buch greifen. Dennoch verdient die darin geleistete Arbeit Dank und Anerkennung.
Anmerkungen:
[1] Vgl. zuletzt Eckart Olshausen / Holger Sonnabend (Hg.): "Troianer sind wir gewesen" - Migrationen in der antiken Welt. Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums 8 (2002), Stuttgart 2006; für einen knappen einführenden Überblick s. Uwe Walter: Paradigmen für fast alle Typen: Migration in der Antike, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 32 (2004), 62-74.
[2] Mitunter geht die Analogisierung auch zu weit, wenn etwa Herodots Erzählweise als "curvilinear and centrifugal" beschrieben und mit den Bewegungen eines "wanderers" parallelisiert wird (139) - und "centerless" ist die Erzählung des Halikarnassiers vollends nicht.
Uwe Walter