Michael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte; Bd. 6), Heidelberg: Synchron 2004, 215 S., ISBN 978-3-935025-68-3, EUR 34,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Prosopografische Nachschlagewerke sind in der historischen Forschung stets willkommen, und dies umso mehr, wenn sie unübersichtliche Gegenstände betreffen. Dies ist im Falle der nationalsozialistischen Polykratie zweifellos der Fall, und so werden die 570 Kurzbiografien, die Grüttner gleichsam als Abfallprodukt seiner jahrelangen Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen Hochschulen im 'Dritten Reich' nun in Form eines Lexikons vorlegt, auf dankbare Aufnahme stoßen.
In einer gleichermaßen knappen wie klaren "Einführung" (9-12) bestimmt Grüttner Ziel, Zweck und Grenzen seines Lexikons: Vollständig aufgenommen wurden (für den Zeitraum von 1933 bis 1945) die Rektoren der Universitäten und Technischen Hochschulen, die Gaudozentenbundführer und Dozentenbundführer des NSDDB, die Leiter der 'Dozentenschaften' an den einzelnen Hochschulen (die ab 1936 in der Regel mit den Dozentenbundführern identisch waren), die Vorsitzenden bzw. Reichsführer des NSDStB und der Deutschen Studentenschaft (seit 1931), die Vorstandsmitglieder des Verbandes der Deutschen Hochschulen vor und nach der Gleichschaltung von 1933, die Vertrauensleute der Hochschulkommission der NSDAP, die seit 1934 an den Medizinischen Fakultäten ernannt wurden sowie die Präsidenten und Generalsekretäre der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Hinzu kommen weitere Personengruppen, bei denen Grüttner "unter dem Gesichtspunkt der wissenschaftspolitischen Relevanz" eine Auswahl getroffen hat, darunter die Kultusminister der Länder und deren Hochschulreferenten, die wichtigsten Beamten des REM, aber auch einflussreichere Funktionäre des NSDDB und des NSDStB. Aufgenommen wurden auch Wissenschaftspolitiker der DFG, des Reichsforschungsrates, des Amtes Rosenberg, der SS und SD (insbesondere des SS-"Ahnenerbes") sowie aus Fächern, die vom Regime besonders gefördert wurden (zum Beispiel Rassenhygiene).
Der Kreis der aufgenommenen Personen ist also nicht einfach zu beschreiben, und Grüttner betont, dass es ihm nicht um die Zusammenstellung sämtlicher Wissenschaftler, die aktive Nationalsozialisten waren, gehe (10). Dennoch ist der Ertrag beträchtlich, vor allem, weil das Material zu guten Teilen aus erster Hand gewonnen ist, also auf Archivalien beruht, so im Falle der Hochschullehrer, wo Grüttner auf die seit 1934 vom REM angelegte "Kartei aller Hochschullehrer des Deutschen Reichs", die den Krieg überstanden hat und sich als Teil des ehemaligen Berliner Document Center heute im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde befindet, zurückgreifen konnte. Überhaupt ist positiv zu vermerken, dass Grüttner Quellenangaben verzeichnet, von denen eigene Forschungen ihren Ausgang nehmen können. Darf man für die Angaben bis 1945 weitgehend Vollständigkeit erwarten, so räumt Grüttner selbst bei den Informationen zur Nachkriegszeit, insbesondere zur Entnazifizierung, sowie zur Mitgliedschaft in politischen Parteien nach 1945 (11) Lücken ein.
Da der Rezensent selbst in den letzten Jahren an einer Prosopografie der Freiburger Philosophischen Fakultät für den Zeitraum von 1910 bis 1970 gearbeitet hat, lag es nahe, die Qualität des Gebotenen vor allem anhand der Freiburger Personalien zu überprüfen. Daraus ergibt sich der Eindruck, dass die Angaben gründlich recherchiert und in höchstmöglicher Zuverlässigkeit wiedergegeben sind - die beiden Irrtümer machen dies in ihrer Marginalität deutlich: Krieck (99) ist im badischen Vögisheim geboren; die Angaben zur Strafe für Walter Schultze, geb. 1894 (156), können so nicht stimmen. Zu unterstreichen ist allerdings, dass die Freiburger NS-Realität bei Grüttner tatsächlich nur unvollkommen abgebildet ist, da wichtige Figuren wie Wolfgang Aly, Hans Oppermann oder Josef Müller-Blattau fehlen - um nur einige der Philosophischen Fakultät zu nennen. Zwei der drei (Oppermann und Müller-Blattau) waren Dekane, doch hieraus die Forderung abzuleiten, Grüttner hätte die Dekane (und nicht nur die Rektoren) berücksichtigen sollen, hätte für Freiburg nicht nur die Aufnahme von Wolfgang Schadewaldt (Dekan unter Rektor Heidegger), sondern auch von Hans Dragendorff und Walter-Herwig Schuchhardt ergeben, beide gewiss nicht NS-Wissenschaftspolitiker im Sinne Grüttners. [1] Das Beispiel mag verdeutlichen, wo das eigentliche Problem liegt: Ein Lexikon zur "nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik" möchte natürlich diese zu erhellen helfen, und Wissenschaftspolitik ist selbstverständlich an Ämter und Funktionen geknüpft. Nur war die NS-Polykratie - ein Ausdruck, den auch Grüttner verwendet - so unübersichtlich und die Realität oft so weit von den papiernen Funktionen entfernt, dass selbst die eingangs resümierte Liste nicht hinreicht, den Personenkreis einigermaßen zu definieren. Ein Blick auf das Fach der Archäologie bestätigt dies: Wenn Grüttner - zu Recht! - die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die DFG, das Amt Rosenberg und das SS-Ahnenerbe berücksichtigt (was unter anderem zu den Einträgen Reinerth und Jankuhn führt), weshalb bleibt dann das Deutsche Archäologische Institut außen vor, obgleich es sich gegenüber den beiden letztgenannten Organisationen durchaus behaupten konnte. Martin Schede oder Walther Wrede gehörten sicher zu einflussreichen Wissenschaftspolitikern vor 1945.
Um der faktischen Unübersichtlichkeit (die nicht Grüttner anzulasten ist) entgegenzuwirken, möchte sich der Rezensent zum Abschluss zwei Vorschläge erlauben: Hilfreich wäre eine alphabetische Liste aller aufgenommenen Personen (vielleicht mit Lebensjahren). Schwieriger zu realisieren sein dürfte der zweite Vorschlag: Die Anlage von Fasten, also von funktionsbezogenen Chronologien (vgl. etwa das Beispiel der Prosopography of the Later Roman Empire, 3 vol. 1970-1992), würde nicht nur die Orientierung erleichtern, sondern auch verdeutlichen, welche Personen nicht mit einem eigenen Eintrag aufgenommen wurden. Solche Übersichten wären auch als praktische Hilfe bei weiteren Forschungen hochwillkommen, würden sie doch künftigen Forscherinnen und Forschern helfen, sich noch besser im Dickicht der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik zurechtzufinden. Doch auch so ist Grüttners Lexikon hier ein nützliches Arbeitsmittel, das auf keinem Schreibtisch fehlen wird.
Anmerkung:
[1] Grüttner selbst betont, dass nicht alle aufgenommenen Personen Nationalsozialisten waren, ja, dass sich sogar Emigranten (vgl. 9) darunter befinden. Formal korrekt, bleibt dennoch Unbehagen zurück, wenn Personen wie Godehard Josef Ebers (1935 aus politischen Gründen entlassen), Peter Paul Ewald (Emigration nach England 1937, da "Mischling ersten Grades") oder Wilhelm Gerloff (Ende März 1933 wegen seiner kritischen Einstellung zum NS in 'Schutzhaft' genommen) nunmehr mit einem Eintrag in einem biografischen Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik bedacht sind.
Eckhard Wirbelauer