Dieter R. Bauer / Matthias Becher (Hgg.): Welf IV. - Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven (= Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Reihe B; Beiheft 24), München: C.H.Beck 2004, VIII + 472 S., ISBN 978-3-406-10665-1, EUR 32,00
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Kurt Reindel charakterisierte ihn in seinen Ausführungen zum welfischen Jahrhundert als klugen, wendigen und wandlungsfähigen Politiker; als Machtpolitiker deutete ihn Wilhelm Störmer. Der Bayernherzog Welf IV., Sohn des otbertinischen Markgrafen Azzo von Este, war maßgeblich an der Wahl der Gegenkönige Rudolf von Rheinfelden und Hermann von Salm beteiligt, ohne sich selbst je in diese Position zu bringen. Wohl aus machtpolitischen Gründen hatte Welf zuvor 1070 seine Gemahlin Ethelinde, Tochter des Bayernherzogs Otto von Northeim, verstoßen, wovon Lampert von Hersfeld nur mit Ekel berichten konnte. Durch eine einträgliche Ehe mit Judith von Flandern, Witwe des Earl Tostig von Northumberland, spannte Welf IV. seine Beziehungen über Italien, Schwaben und Bayern nun weit nach Norden aus. 1101 oder 1102 verstarb er auf der Rückreise vom zweiten Kreuzzug.
Als "Schlüsselfigur" einer von vielfältigen Krisen und Umwälzungen gekennzeichneten Zeit sucht der anzuzeigende Aufsatzband, der die Ergebnisse einer Weingartener Tagung vom Oktober des Jahres 2001 zusammenfasst, Welf IV. zu charakterisieren. Einige der insgesamt 15 Beiträge wurden durch die bis zur Drucklegung erschienene Literatur ergänzt. Der Formulierung "Schlüsselfigur" geht die Annahme voraus, in Welf bündelten sich kaleidoskopartig gewisse Diskurse der Zeit. Zudem ist ihm als Neffe des kinderlos verstorbenen Welf III. eine große Bedeutung für die Geschichte der Welfen zuzuschreiben. Mit dieser beschäftigen sich mehrere Aufsätze. Matthias Becher zeichnet die Geschichte des zunächst möglicherweise als despektierlicher Spitzname gedachten Wortes "Welf" nach. Die gedankliche Verbindung mit dem lateinischen "catulus" sei von Welf IV. wohl bewusst als Traditionsanknüpfung aufgegriffen worden, die zudem eine durch die Historia Welforum belegte Nähe zum römischen Republikaner Catilina aufweise. Diese habe sich wiederum mit dem Widerstand Welfs IV. gegen Kaiser Heinrich IV. verknüpfen lassen. Wie sich dies mit einem auch im Mittelalter schon negativen Catilinabild vereinen lässt, bleibt zu diskutieren, ebenso wie das Problem der Antikenrezeption.
Ausgehend von der grundsätzlichen Frage nach der Einzigartigkeit der Historia Welforum, kommt Alheydis Plassman durch Vergleich mit den Gesta consulum Andegavorum und der Flandria Generosa zum Ergebnis der durchaus vorhandenen, möglicherweise westeuropäisch beeinflussten topischen Requisitenhaftigkeit der Historia. Werner Hechberger weist umsichtig nach, dass Zeitgenossen im Gegensatz zu Späteren die Ereignisse um das irritationsreiche Bodmaner Testament von 1055 und den Erbwechsel von Welf III. auf Welf IV. nicht als Bruch empfanden, da das gleichsam familienrettende Einspringen eines Seitenverwandten durchaus nicht als Problem angesehen wurde. Mit Welf III. und Kärnten beschäftigt sich der umfassende Aufsatz von Heinz Dopsch, der in einigen Passagen, etwa bezüglich der Geschichte Kärntens oder dem in der Forschung hochumstrittenen Fürstenstein, auf frühere Arbeiten des Verfassers zurückgreifen kann. Ob Welf III. durch die pfalzgräflichen Aribonen und Bischof Gebhard von Regensburg in den Aufstand gegen Heinrich III. getrieben wurde, ist nicht nachzuweisen. Bezüglich der anschließenden "deditio" Welfs folgt Dopsch den Arbeiten Gerd Althoffs.
Grundsätzliche Bedeutung kommt den Ausführungen Hubertus Seiberts zum bayerischen Dukat Welfs IV. zu. Seibert kann drei Phasen unterscheiden, die durch eine erstrebte Zunahme der herzoglichen "auctoritas" geprägt sind. Eine Ausnahme bildet hierbei der bayerische Vorort Regensburg als Zentrum königlichen Einflusses. Zwischen 1070 und 1101 konnte Welf IV. keine Landtage dort durchführen, was zweifellos den schon früher eingeschlagenen "Sonderweg" der Donaustadt mitbestimmte. Das schwäbische Pendant zur Arbeit Seiberts ist der Aufsatz von Thomas Zotz, der den Konflikt der südwestdeutschen Großen mit Kaiser Heinrich IV. nachzeichnet, in dem Welf IV. eine maßgebliche Bedeutung zukam. Unter begriffsgeschichtlichem Ansatz ausgehend von Bernold von Konstanz, spannt Zotz seine Überlegungen für die Zeit bis 1077 zwischen dem Begriffspaar Kränkung ("iniuria") und Rückzug ("discessio") ein, worauf eine offensive Phase unter dem Stichwort "coniuratio" folgte. Dem durch Bruno bezeugten schwäbisch-sächsischen "foedus" nach 1070 misst der Freiburger Historiker im Rahmen der Gegenkönigswahlpläne mehr als nur äußerliche Bedeutung zu.
Mit dem Problemfeld Welf IV. und die Kirchenreform befassen sich die Aufsätze von Johannes Laudage und Helmut Maurer. Letzterer sieht in Welf IV. und Bischof Gebhard III. von Konstanz die Häupter, die Bodenseegegend als Zentrum der süddeutschen Reformpartei, wobei er den Begriff Reform weit deutet und vor allem in der Papsttreue, der "militia sancti Petri", und der daraus resultierenden Opposition zum Salierkaiser begründet findet. Die Frage, ob Welf IV. ein Reformadliger war, beantwortet Laudage hingegen "mit einem entschiedenen Jein" (311), da auch machtpolitische Gründe für das Handeln des Herzogs zu berücksichtigen seien. Insgesamt gelingt Laudage und Maurer im Wechselspiel zwischen Biografie und Geistesgeschichte eine Profilierung der jüngst im Rückgriff auf Max Weber beschriebenen, als zunehmend von Rationalisierungstendenzen bestimmten "Entzauberung der Welt" am Ende des 11. Jahrhunderts (Stefan Weinfurter). Die quellenkundlich nur schwer fassbare Gründung und Frühzeit des Augustinerchorherrenstifts Rottenbuch behandelt Franz Fuchs. In seinen Ausführungen zum Propst Manegold den Forschungen Horst Fuhrmanns folgend, unternimmt er den Versuch der Rekonstruktion der Rottenbucher Memorialüberlieferung. Ob die bemerkenswerte Diözesanlage Rottenbuchs bei der Gründung eine Rolle spielte, wäre noch zu überprüfen. Die Geschichte des welfischen Hausklosters Weingarten zeichnet Sönke Lorenz in seinem zeitlich weit ausgreifenden Aufsatz nach.
Das "Italienische" Welfs IV. sucht Katrin Baaken nachzuweisen, obzwar sie die Problematik dieser Fragestellung angesichts eines in weiten Räumen denkenden Geschlechts eingesteht. Die Aussage, Welf habe nach langobardischem Recht gelebt, ist quellenkritisch problematisch. Strategisch bedeutsam sind die Verbindungen zum Zentralort Verona, wie sie auch Heinz Dopsch für Welf III. nachwies. Die Heirat Welfs V. und Mathildes von Tuszien sieht Elke Goez weitgehend durch Welf IV. beeinflusst, wobei sie bezüglich der Motive Mathildes Papsttreue, die Sorge um den Fortbestand der Markgrafschaft Tuszien, den Wunsch der Großen und der vielleicht noch bestehenden Hoffnung auf Nachwuchs zumindest für denkbar hält.
In seinen Ausführungen zur oberschwäbischen Dienstmannschaft versucht Karel Hruza einen Ministerialenwechsel von der Reichsabtei Weißenburg zu den Welfen nachzuweisen, doch kann die Quellenlücke von 1078 bis 1165 nur hypothetisch gefüllt bzw. aus der historischen Entwicklung erklärt werden, wie der Autor vermerkt (408 f.). Bezüglich der Ausführungen zum Augsburger Kloster St. Ulrich und Afra (382) sei hier nachdrücklich auf die Forschungen Wilhelm Liebharts verwiesen. Auf dem zweiten Kreuzzug habe Welf IV. laut Marie-Louise Favreau-Lilie "nur eine eher ruhmlose Nebenrolle" (447) gespielt. Lediglich Albert von Aachen überliefert einen Hinweis auf das Ansehen Welfs IV., von dem Kaiser Alexios I. den Vasalleneid forderte. Die Quellensituation macht eine Auffüllung aus der allgemeinen Kreuzzugsgeschichte, vielleicht auch Kreuzzugstopik notwendig. In seinem öffentlichen, rhetorischen Abendvortrag entwarf Bernd Schneidmüller ein vielseitiges Lebensbild Welfs IV. Als "Mann der vielen Anfänge" (1), "aus dem Quellennichts" erstanden (11), komme dem Bayernherzog eine gewisse Beispielhaftigkeit für diese turbulenten Zeiten zu (5 f.). Er habe die Dynastierung des bayerischen Dukats für das - freilich auch unterbrochene - welfische Jahrhundert begründet. Insgesamt sei Welf eine "Schlüsselfigur der Wendezeit" (1).
Der sehr gelungene, mit zwei Karten, einem Orts- wie Personenregister versehene Sammelband bereichert die Forschung zum 11. Jahrhundert auf methodisch wie inhaltlich vielfältige Weise. Er besticht auch dadurch, dass gerade etwa die Beiträge zum Problemfeld Investiturstreit zu unterschiedlichen Detailergebnissen gelangen. Auf kleinere Fehler sei nur kurz hingewiesen: Im Aufsatz von Alheydis Plassmann ist teilweise die Fußnotenzählung verrutscht. Die Jahreszahlen auf Seite 95 f. betreffen das 11. und nicht das 12. Jahrhundert. Das Kloster Altomünster taucht plötzlich am Ammersee auf (31) - vielleicht liegt hier eine Verwechslung mit der spät als Altenmünster bezeugten Rottenbucher Stiftskirche im Ammergau vor.
Christof Paulus