Jan T. Gross: Fear: Anti-Semitism in Poland after Auschwitz. An Essay in Historical Interpretation, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2006, xv + 303 S., ISBN 978-0-691-12878-8, GBP 16,95
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John Connelly hat unlängst ein erstaunliches Unwissen in der US-amerikanischen Gesellschaft über die Rolle der Polen während des Judenmordes im Zweiten Weltkrieg beklagt. Auch unter gebildeten Amerikanern seien demnach viele überzeugt, dass sich die ethnisch polnische Bevölkerung an der Ermordung ihrer jüdischen Landsleute in erheblichem Umfang aktiv beteiligt habe. [1] Marek Jan Chodakiewicz hatte sich zuvor bemüht, zumindest dem schlechten Ruf ethnischer Polen als Antisemiten in den frühen Nachkriegsjahren ein anderes Bild gegenüberzustellen. Er vertrat die These, antijüdische Gewalt vonseiten der ethnisch polnischen Bevölkerung (nach dem Ende der NS-Okkupation) sei aus antikommunistischen - und nicht aus antijüdischen - Einstellungen hervorgegangen. [2]
Im Mittelpunkt des historiografischen "Versuchs" von Jan T. Gross steht nun einmal mehr der heftige Antisemitismus in Polen in den ersten 2-3 Jahren nach dem Ende der nationalsozialistischen Besatzung. Dabei ist es ihm um scharfsinnige Analyse und um Aufklärung zu tun, denn auch sechs Jahrzehnte nach den Geschehnissen gilt, dass "[w]artime and postwar anti-Semitism in Poland has never been examined for what it was, but has always been conflated in the minds of Jews and Poles alike with something else, and conveniently deproblematized" (XII).
Gross hat neben einschlägiger Akten- und Zeugenüberlieferung zum Teil auch die zeitgenössische Publizistik ausgewertet. Er zeichnet auf dieser Grundlage ein schonungsloses Bild der Verhältnisse, die geprägt waren von weit verbreitetem, überkommenem Antisemitismus, extrem antijüdischen Einstellungen in der Führung der polnischen katholischen Kirche und mangelndem Interesse der nationalkommunistischen Machthaber an Schutz und Unversehrtheit jüdischer Bürger.
Im ersten Kapitel - "Poland abandoned" - gibt der Verfasser einen Überblick über den zeitgeschichtlichen Kontext beim Übergang des von der NS-Besatzung befreiten Landes und seiner Bevölkerung im sowjetischen (Vor-)Herrschaftsbereich. Wie Gross im folgenden Abschnitt ausführt, schlug den 1944-46 aus NS-Lagern, Verstecken, einer angenommenen (nichtjüdischen) Identität und aus der Sowjetunion in das öffentliche Leben zurückkehrenden Jüdinnen und Juden unerwartet großer Unwillen, Abneigung, ja Gewalt entgegen - besonders vonseiten der Gegner der Kommunisten. Sie kulminierte, so das dritte Kapitel, am 4. Juli 1946 in der zentralpolnischen Wojewodschafts-Stadt Kielce während eines Judenpogroms, dem 42 Menschen zum Opfer fielen. Weitere wurden in Zügen von und nach Kielce und auf Bahnhöfen ermordet. In Kapitel 4 geht es um Reaktionen auf den antijüdischen Gewaltausbruch aus der polnischen Gesellschaft, insbesondere der Machthaber und deren Unterstützer sowie der katholischen Kirche. Kapitel 5 greift das Problem der sozialen Distanz zwischen Juden und Nichtjuden während der Okkupationsjahre auf, aus dem sich für beide Nationalitäten unterschiedliche Erfahrungen ergaben. Im letzten Kapitel wendet sich Gross dem Klischee vom "jüdischen Bolschewismus", der so genannte Judenkommune (żydokomuna), und der Verwicklung von Menschen jüdischer Herkunft in kommunistische Unternehmungen in Polen und Osteuropa zu.
Gross' Hauptthese erfährt der Leser bereits auf den Einführungsseiten: "it was widespread collusion in the Nazi-driven plunder, spoliation, and eventual murder of the Jews that generated Polish anti-Semitism after the war, not the alleged postwar Jewish collusion in the imposition of Communism on the Poles" (XIV). Er vertritt damit die Gegenthese zur unbestreitbar tendenziösen Position von Chodakiewicz. [3]
Die Schärfe der Gross'schen Analyse geht indessen weit über das hinaus, was zuvor publiziert wurde. Brillant und treffend fasst Gross etwa seine Widerlegung des żydokomuna-Stereotyps zusammen. Demnach waren die wahren 'Kommunisierer' "for the most part local boys, and not the brightest ones, either. Not strangers with sharp, pointed features driven by alien ideology, but men with familiar faces [...]" (236).
Der Pogromversuch in Rzeszów am 12. Juni 1945 wird hier erstmals in einiger Ausführlichkeit geschildert. Die antijüdischen Unruhen in Krakau am 11. August bleiben dagegen allzu blass, zumal Gross die Stellungnahme Jerzy Zagórskis unbekannt zu sein scheint. [4] Gross' eigene Version vom Pogromverlauf in Kielce ist vollauf überzeugend. Es erschüttert, wie sehr Kinder und Jugendliche - vielmals Pfadfinder - als Helfer oder gar Mittäter in das Verbrechen hineingezogen wurden, worauf der Verfasser mehrfach hinweist.
Da Gross die internationale Forschungsliteratur nur im Ausschnitt einbezieht, entgehen ihm allerdings manche Nuancen. So ist es für die Analyse des antijüdischen Gewaltausbruchs in Kielce nicht unerheblich, dass der Chef der kommunistischen Polnischen Arbeiterpartei (PPR) in der Wojewodschaft selbst jüdischer Abstammung war. Bei dem mehrfach genannten Publizisten "Wincenty Bednarczuk" handelte es sich bloß um ein Pseudonym des Schriftstellers Jerzy Putrament, der sich den Kommunisten angeschlossen hatte. [5]
Auch hat die Angst, die 1944-1946 in Polen umging, eine Vorgeschichte. Sie rührte in hohem Maße von der NS-Besatzung, welche die Bedingungen des Zusammenlebens von Polen und Juden grundlegend verändern sollte. Der Hass von Teilen der ethnisch polnischen Bevölkerung auf Juden wurde unterdessen dadurch genährt, dass deren - von den neuen Machthabern offiziell betriebene - Wiedereinsetzung in ihre bürgerlichen Rechte in der Gesellschaft auf strikte Ablehnung stieß.
In einer Kritik an der deutschen Kollektiverinnerung hat Frank Golczewski schon in den 1990er-Jahren festgestellt, dass durch den Judenmord und Terror der Besatzer "zerstörerische Energien und Bruderkämpfe" ausgelöst wurden, durch die "ein größerer Raum deutscher Verantwortung" beschrieben wird, als wie er aus einem allein auf das deutsche Handeln fokussierten Blick zu erfassen ist. [6] Aus diesem Grund scheint es durchaus berechtigt, "Antisemitismus in Polen nach Auschwitz" zu einem erheblichen Teil als Folgeerscheinung der NS-Herrschaft in Polen anzusehen und ihn - wie im Falle des Kielcer Judenpogroms geschehen - in der "Enzyklopädie des Holocaust" abzuhandeln. Auf einem anderen Blatt steht, dass diese mittelbare Verantwortung auch heute noch - vor lauter 'neuer Opferdebatte' - hier zu Lande kaum wahrgenommen wird.
Anmerkungen:
[1] John Connelly: Mity i kontrmity: Przyczynek do dyskusji o polskiej tożsamości historycznej, in: Pamięć i Sprawiedliwość 2/8 (2005), 377-386. Eine fundierte und umfassende Untersuchung über den zugrunde liegenden Sachverhalt liegt bis heute nicht vor.
[2] Marek Jan Chodakiewicz: After the Holocaust. Polish-Jewish Conflict in the Wake of World War II, Boulder 2003.
[3] Siehe meine Rezension in PolHist vom März 2006, URL: http://www.markuskrzoska.de/archiv45.htm
[4] Siehe dazu: Klaus-Peter Friedrich: Der nationalsozialistische Judenmord in polnischen Augen: Einstellungen in der polnischen Presse 1942-1946/47, phil. Diss. Köln 2003, URL: http://kups.ub.uni-koeln.de/volltexte/2003/952/, 610-615. [5] Dariusz Libionka: Antysemityzm i zagłada na łamach prasy w Polsce w latach 1945-1946, in: Polska 1944/45-1989. Studia i materiały, Bd. 2, Warszawa 1996, 151-190, hier 162. [6] Frank Golczewski: Zur Historiographie des Schicksals der polnischen Juden im Zweiten Weltkrieg, in: Arno Herzig / Ina Lorenz (Hg.): Verdrängung und Vernichtung der Juden unter dem Nationalsozialismus, Hamburg 1992, 85-99, hier 87. Klaus-Peter Friedrich