Konrad Hirschler: Medieval Arabic Historiography. Authors as Actors (= Routledge Studies on the Middle East; Vol. 5), London / New York: Routledge 2006, x + 181 S., ISBN 978-0-415-38377-6, USD 120,00
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Gingen innovative Ansätze zur arabischen Geschichtsschreibung seit den 1960er Jahren zumeist aus der Beschäftigung mit der frühislamischen, noch stark oral orientierten Überlieferung hervor, so fallen zunehmend auch inspirierende Forschungen zur vollends schriftbasierten Historiographie späterer Zeiten auf. Mit der 2003 an der Londoner School of Oriental and African Studies angenommenen Dissertation von Konrad Hirschler liegt nun eine weitere Arbeit vor, die aus der Breite der Forschung schöpft, ihren Gegenstand aber in aiyūbidisch-mamlūkischer Zeit findet.
Kapitel 1 "Introduction" (1-6) stellt die Frage nach dem "room for manoeuvre - or the agency - that medieval authors of Arabic historical narratives disposed of in composing their texts" (1). Der aus den angelsächsischen Sozialwissenschaften entlehnte Begriff agency meint hier die literarische Gestaltungsfreiheit, welche Schriftsteller genossen oder sich zumaßen. Hirschler will feststellen, 1. wie diese sich zum jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld einerseits und zur gelehrten Tradition und dem Umfeld an Texten andererseits verhielt, und 2. wie sie sich in den Texten geltend macht. In einer komparativen Fallstudie sollen sozialhistorische und narratologische Betrachtungsweise zusammengeführt werden, um zu zeigen, "how [the authors] produced meaningful narratives within their social contexts" (3). Zum Vergleich kommen das Kitāb ar-Rauḍatain fī aḫbār ad-daulatain an-Nūrīya waṣ-Ṣalāḥīya von Abū Šāma (gestorben 665/1268) und das Kitāb Mufarriǧ al-kurūb fī aḫbār Banī Aiyūb von Ibn Wāṣil (gestorben 697/1298), speziell die Abschnitte zu den Regierungszeiten Nūraddīns und Ṣalāḥaddīns (541/1146 bis 589/1193).
Kapitel 2 umreißt den "Historical and historiographical background" (7-14). Kapitel 3 "Social contexts" (15-42) widmet sich den professionell-gelehrten Milieus beider Schriftsteller. Der Logiker und Historiker Ibn Wāṣil verkörpert zunächst den Typus des Hofhistorikers, der sein Schicksal an das des Herrschers knüpft. Er erweist sich aber als ein erfolgreicher Netzwerker, der beim Wechsel von den Aiyūbiden zu den Mamlūken neue gelehrte und politische Verflechtungen herzustellen verstand, ohne einen Abstieg zu erleiden. Der Religionsgelehrte Abū Šāma hingegen, eher den idealen, zurückgezogenen Madrasa- und Stubengelehrten darstellend, suchte allein den Verkehr mit Gleichen und prangerte obendrein die politische Verstrickung vieler Kollegen an. Geschickt wird dargelegt, wie er öffentliche Stellungen der von ihm kritisierten Art bekleidete und doch eine Randfigur des Damaszener Gelehrtenbetriebes blieb.
Kapitel 4 "Intellectual contexts" (43-62) zeigt die beiden als Wissenschaftler unter Wissenschaftlern. Der Schwerpunkt liegt auf Abū Šāma und den religiösen Fächern. Auf bestechende Weise wird dargelegt, wie Abū Šāmas Plädoyers für den Analogieschluss (iǧtihād) und sein Eifern gegen jede Fixierung (taqlīd) an die sekundären Autoritäten der Rechtsschulen ihn als einen Rationalisten auf religiösem Feld erscheinen lassen, der sich den argumentativen Grund einer agency zurechtzulegen wusste, welche über das zeitübliche Maß hinausging. Weniger plastisch gestalten sich, quellenbedingt, die intellektuellen Bezüge Ibn Wāṣils.
Mit Beginn der Durchführung in Kapitel 5 "Textual agency I: titles, final sections and historicization" (63-85) kommt endlich die Historiographie zur Sprache. Die These lautet, dass beide Texte spezifische Entwürfe des Vergangenen darstellen, die sich auch als Stellungnahmen zur Gesellschaft ihrer Zeit lesen lassen. Das wichtigste literarische Element dabei kennzeichnet Hirschler mit einem Begriff von H. White als emplotment (narrative Modellierung). Er benennt (jenseits von White) zwei Modi: 'Stasis' und 'Prozeß' (64). Demzufolge modellierte Abū Šāma die Zeit Nūraddīns und Ṣalāḥaddīns als Revitalisierung der mustergültigen ersten islamischen Gemeinde; beide ragten als Glanzepochen aus dunklen, eben auch die Gegenwart umfassenden Zeiten (ǧāhilīya!) hervor. Hingegen schildere Ibn Wāṣil einen Strom historischen Wandels entlang einem linearen Zeitstrahl, worin bessere und schlechtere Herrschaften sich ohne erkennbare Gesamtentwicklung abwechselten, künftige Besserung demnach möglich bleibe.
Bei aller Unterschiedlichkeit handelt es sich also um Variationen des Themas Ideale Regierung "- not as an abstract dispute over the merits or demerits of past periods, but as a present issue enacted via the past" (65). Diesen Gegenwartsbezug möchte Hirschler nicht im Sinne von interessengeleiteter Verzerrung verstanden wissen, vielmehr betont er das Erzählen (narrativity) als Moment des Verhältnisses von Autor und Vergangenheit. Hier liegt ein Missverständnis vor. Die Verfasser schrieben rund fünfeinhalb bis fünfzehn Jahrzehnte post factum und gaben nicht wie Zeitzeugen reales Geschehen wieder, sondern, wie Hirschler im einzelnen bewusst ist, die bereits ausgestalteten und redigierten Geschichtserzählungen früherer Berichterstatter. Folglich täten sich Fragen zum Kompilationswesen auf. Statt dessen zeugt die Rede von "facts and events" und "their immediate past" (4, 11 u. ö.), "raw material" und "fragments of the past" (65) von naturalistischer Verkürzung. Das Verfahren grenzt wegen der Vernachlässigung des intertextuellen Bedingungsgefüges und disziplinärer Gepflogenheiten der Historiker an einen Zirkelschluss.
Die folgenden reichhaltigen und einfühlsamen Beobachtungen (68 f.) bereichern unser Verständnis der äußeren und inneren Form beider Chroniken. Unter anderem gelingt der Nachweis, dass die in der Forschung vernachlässigten Werktitel die jeweilige narrative Modellierung ankündigen (ar-rauḍatain: zwei isolierte Paradiesgärten = Herrschaften; mufarriǧ al-kurūb: Zerstreuer der Kümmernisse, nämlich ob dem Dynastiewechsel).
In Kapitel 6 "Textual agency II: micro-arrangement, motifs and political thought" (86-114) meistert Hirschler zunächst die schwierige Aufgabe, den fragmentarischen Charakter von Abū Šāmas Bericht zu erklären. Er führt dies auf eine bewusste Entscheidung zurück, den Modellierungsmodus Stasis auch in der Feinanordnung des Materials zur Geltung zu bringen, indem nämlich die häufende und vielfach verschachtelnde Anordnung von Parallelberichten beim Leser einen Eindruck von Zirkularität bewirken solle, welcher im Kleinen das Stockende der Gesamtanlage, die Inselhaftigkeit der rauḍatain wiederholt. Hingegen harmoniert Ibn Wāṣils ganz andere Feinanordung - parallelenlose lineare Berichtsverkettung - mit dem im Werkganzen aufgehobenen Prozessgedanken. Die Argumentation hierzu (86-92) zählt zu den Höhepunkten des Buches. Feinfühlige Textbetrachtungen sind auch zu lesen, wo es um Ibn Wāṣils Absicht geht, seine Vorlagen zu einer integralen Neuerzählung umzuarbeiten (92-109).
Kapitel 7 rückt die "Reception after the seventh/thirteenth century" (115-121) in den Blick und zeigt, dass die Modellierungsabsicht Abū Šāmas in späterer Zeit verstanden, aber auch mit darüber hinausgehenden Interpretationen angereichert wurde. Die Leser besaßen also ebenfalls room for manoeuvre. Die "Conclusion" in Kapitel 8 (122 f.) stellt eher einen Abstract dar.
Wie weit tragen nun die Ergebnisse? Einerseits ist es Hirschler gelungen, den beträchtlichen Spielraum beider Autoren bei der Textgestaltung nachzuweisen und etliche Eigentümlichkeiten der Texte durch Rückführung auf Gestaltungsentscheidungen als konsistent und bedeutungsgeladen zu erhellen. Daher leuchtet die Interpretation ein, dass beide Vergangenheitsentwürfe mit Bedacht auf ein bestimmtes Verständnis der zeitgenössischen politischen Verhältnisse verfasst wurden, welche wiederum einem bestimmten gesellschaftlichen Ort entsprachen. Beispielhaft sind die eindringliche Textlektüre und die Zusammenschau von Werkganzem und einzelnen Abschnitten.
Andererseits ist zweifelhaft, ob die Materialgrundlage der Untersuchung bei einem Vergleich von nur zwei Texten glücklich gewählt ist, wenn die Verfasser von derart ungleicher Provenienz sind wie eben diese. Nur Ibn Wāṣil ist Historiker und kann mit seiner linearen annalistisch-dynastischen Chronik dieses Schrifttum repräsentieren. Abū Šāmas Rauḍatain hingegen stellt den Ausflug eines Religionsgelehrten in die Geschichtsschreibung dar und ist vielfach untypisch für die arabische Chronistik (so ausdrücklich 92); insbesondere vertritt er durch die Rückbeziehung der dargestellten Epoche auf die Entstehungszeit des Islams eine disjunktive, ja ahistorische Auffassung. Die Untersuchung liest sich daher vielfach wie eine Beschreibung der Heterogenität und Divergenz der Texte; das hätte sich auch mit geringerem konzeptionellen Aufwand erreichen lassen. Somit wird zum einen nicht glaubhaft, dass Abū Šāmas spezifische Stasisorientierung verallgemeinerbar sei im Sinne eines von Whites großen historiographischen modes of emplotment. Zum anderen stellt sich heraus, dass Ibn Wāṣils Prozessorientierung die allgemeine Arbeitsgrundlage all jener Historiker ist, die innerhalb der Hiǧra-Zeitrechnung mehrhundertjährige Zeiträume zu behandeln gewöhnt sind; Hirschler selbst attestiert "the absence of the grand narrative underlying the mode of Stasis" (103).
Der schräge Vergleich zwischen einem individuell-gattungsfernen und einem überaus gattungstypischen Werk sowie die ungleiche Anwendbarkeit des Modellierungskonzepts bewirken, dass der Nutzen der Ansätze für die Historiographiegeschichte hinter dem Anspruch zurückbleibt, den der umfassende Titel der Studie stellt. Weniger diskrepant wäre der Titel des Londoner Dissertationsmanuskripts gewesen: "Narrating the Past. Social Contexts and Literary Structures of Arabic Historical Writing in the 7th/13th Century" (vgl. auch 122, erster Absatz).
Kurt Franz