Astrid Arnold: Villa Kérylos. Das Wohnhaus als Antikenrekonstruktion, München: Biering & Brinkmann 2003, 177 S., 185 Abb., ISBN 978-3-930609-43-7, EUR 65,00
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Eine der wichtigsten wissenschaftlichen Einrichtungen Frankreichs - und in seiner Art wohl einmalig - stellt das ehrwürdige Institut de France dar, das seit seiner Gründung im Revolutionsjahr 1795 die Nachfolgekörperschaften der aufgelösten ehemals königlichen Akademien unter seinem Dach vereinigt. In dieser Funktion fielen dem Institut im Lauf der Zeit auch mehrere Museen, Sammlungen und Stiftungen zu, in denen das in Frankreich auch politisch bedeutsame einheimische Kulturgut, das patrimoine français, verwaltet wird. Darunter fällt auch die Villa Kérylos in Beaulieu-sur-Mer, nahe Nizza gelegen, eine der ungewöhnlichsten europäischen Villenschöpfungen des frühen 20. Jahrhunderts. In den Jahren 1902-08 als Sommersitz für den Altertumswissenschaftler Théodore Reinach (1865-1928) entstanden, bilden Architektur und Ausstattung bis in kleinste Details hinein die persönliche Antikenrezeption des hoch gebildeten Auftraggebers ab. Mit seinen ebenso multipel begabten Brüdern Joseph (1856-1921) und Salomon (1858-1932) dominierte Théodore bereits in seiner Jugend viele nationale concours, was den dreien den an die Anfangsbuchstaben ihrer Namen angelehnten Spitznamen "Je sais tout" eintrug. Reinachs Herkunft aus einer ursprünglich aus Frankfurt am Main stammenden großbürgerlichen jüdischen Bankiersfamilie ermöglichte es ihm, die Villa, eine folie architecturale à la grecque, von dem Architekten Emmanuel-Elisée Pontremoli (1865-1956) errichten zu lassen. In diesem Gebäude sind nicht nur alle Wände und Böden mit Reliefs, Mosaiken und Malereien geschmückt, die motivisch auf antiken griechischen Vorbildern (zumeist Vasenbildern) beruhen, sondern auch Möbel, Beleuchtungsgerät und Textilien sowie sämtlicher Hausrat sind solchen Modellen verpflichtet. Die Villa mit ihrem gesamten Inventar, so wurde es bereits sechs Jahre vor seinem Tod von Reinach festgelegt, fiel nach seinem Tode dem Institut zu. Astrid Arnold hat in ihrer im Wintersemester 2001 an der Universität Freiburg vorgelegten Dissertation erstmals das Gebäude und seine Ausstattung einer grundlegenden Strukturanalyse unterzogen. Ihre Ergebnisse sind zwei Jahre später in Buchform unter dem Titel "Villa Kérylos: Das Wohnhaus als Antikenrekonstruktion" erschienen.
Gleich der erste Eindruck des Buches zeigt, dass es weder in Aufbau noch im Stil seine Herkunft verleugnen kann. Auch ohne Kenntnis der zu Grunde liegenden Dissertation lässt die schematische Buchstruktur, die von "A Dokumentation" bis "E Abhang" reicht, der schließlich noch von den Abbildungen ergänzt wird, überall den klassischen Aufbau einer soliden wissenschaftlichen Arbeit spüren, wie sie ab der gymnasialen Oberstufe unterrichtet wird. So folgen im ersten Kapitel "A" erwartungsgemäß die Punkte "Literaturbericht und Aufgabenstellung" (11-13), die, fortlaufend nummeriert, durch eine Beschreibung des Baus (14-21), Angaben zur Quellenlage (22), zur Planung und Ausstattung (23-25) der Villa sowie Angaben zu Auftraggeber (26-27), Architekt (28-29) und ausführenden Künstlern und Kunsthandwerkern (30-32) ergänzt werden, denen noch an achter Stelle "die Villa von 1928 bis 2002" (32) und neuntens die "Restaurierungsgeschichte" (33) folgen. Architektur- und ausstattungsgeschichtliche Fragen bilden den zweiten Teil, in dem die einzelnen Räume und Gebäudeteile einer genaueren Untersuchung unterzogen werden und nach den archäologischen Vorbildern derselben gefragt wird, wobei die Autorin stets die bisher größtenteils unbekannten Entwurfszeichnungen im Institut de France mit einbezieht (35-55). Nach und nach geht die Autorin die Räume durch und verortet dabei die angewandten Vorlagen, wofür sie nicht nur die zu Grunde liegenden archäologischen Monumente im Blick hat, sondern auch dabei stets reflektiert, inwieweit Reinach und sein Architekt diese aus der Autopsie und/oder aus der Fachliteratur kannten. Typengeschichtliche Fragen schließen sich an (56-60), in denen die Autorin versucht, den Bautyp mit antiken Bautypbegriffen wie beispielsweise der villa suburbana zu fassen, um über motivgeschichtliche Fragestellungen (60-69) und "Gartenanlagen nach antikem Vorbild" (70-71) zum Kern ihrer Aussage vorzudringen, nämlich dem "Wohnhaus als Antikenrekonstruktion" (72-81). Diese unterfüttert sie nachfolgend mit einer "Begriffsbestimmung" (82-86), die sie zudem um eine "Funktionsgeschichte" (87-89) ergänzt, um schließlich (man ahnt es längst) die Villa Kérylos zum Gesamtkunstwerk zu erklären (90-91). Die Einordnung der Villa in ihr unmittelbares Umfeld, "die Villen an der Côte d'Azur um 1900" geschieht en passant (92-93) als Überleitung zum dritten Teil der Arbeit, den "ideengeschichtlichen Fragen" (95-105). In diesen fragt sich die Autorin, inwieweit die Villa Ausdruck eines zeittypischen Rückgriffs auf die griechische Antike darstellt bzw. dieser Reverenz erweist und wie durch die Wiederbelebung eines antiken Erlebnisraumes kulturelle Erinnerung ausgedrückt wird. Nach der Zusammenfassung folgt abschließend ein umfangreicher Anhang, in dem Abkürzungs- und Literaturverzeichnis seltsamerweise gleichberechtigt neben inhaltlich wesentlich gewichtigeren Einträgen wie den verwendeten Musterbüchern sowie dem Katalogteil, der die im Pariser Institut aufbewahrten Entwurfszeichnungen auflistet, stehen.
Schon allein typografisch fällt bereits im ersten Kapitel auf - und dies setzt sich durch das Buch fort -, wie durch das vom Münchner Verlag Biering und Brinkmann gewählte große, fast quadratische Format, das den Text pro Seite auf zwei Kolumnen verteilt, Informationsfülle suggeriert wird. Dies findet inhaltlich in der oft geringen Dichte des Textes eine Entsprechung. Gerechterweise muss man hinzufügen, dass in vielen Punkten dabei der Autorin die Forschungslage in keiner Weise zur Hilfe kommt, wie ihre zweiseitige Zusammenfassung zu Leben und Werk des Architekten Pontremoli (1865-1956) symptomatisch beweist (28-29). Astrid Arnolds großes Verdienst ist es, erstmals sämtliche Vorbilder für Bautyp, Innenausstattung und Hausrat eruiert zu haben und dies mit einer Akkuratesse, die als paradigmatisch für einen solchen Monografietyp bezeichnet werden darf. Dass sie das Haus jedoch allein unter dem Aspekt der Antikenrekonstruktion betrachtet, verstellt ihr den Blick für andere Fragestellungen - so wird man als Betrachter den Eindruck nicht los, dass dieses Gebäude, so viele Vorbilder Astrid Arnold für alle Details sie auch heranziehen und zitieren kann, niemals zu einer anderen Zeit so errichtet hätte werden können und das nicht nur allein auf Grund des wissenschaftlichen Kenntnisstandes der damaligen Archäologie. Man fühlt sich unwillkürlich an Bau- und Ausstattungselemente der art nouveau Villenschöpfungen Otto Wagners (1841-1918), Charles Rennie Mackintoshs (1868-1928) und Josef Hoffmanns (1870-1956) erinnert - ein Aspekt der bei ihr überhaupt nicht vorkommt. Stattdessen vergleicht sie die Villa Kérylos ausschließlich mit anderen Gebäuden nach antiken (sowohl griechischen als auch römischen) Vorbildern und gerät damit in eine historische Schieflage, indem sie beispielsweise das klassizistische (!) Pompejanum in Aschaffenburg heranzieht.
Eine Monografie über eine solch ungewöhnliche Villa kann natürlich nicht ohne Bildmaterial auskommen, jedoch vermitteln die Abbildungen nur bedingt deren einmaligen Charme: Viele von diesen sind nur schwarz-weiß und die wenigen farbigen, die ansatzweise den Gesamtraumeindruck wiedergeben, variieren sehr in ihrer Farbqualität und man würde sich oftmals andere Bildausschnitte wünschen. In dieser Hinsicht ist weiterhin der von Arnold zu Recht als bisher ausführlichste Quelle angeführte kleine Villenführer zu empfehlen. 1934 vom Architekten mit J. Chamonard verfasst lassen in ihm sehr tiefenscharfe schwarz-weiße Fotos auch detailliert Hausgerät und Textilien à l'antique erkennen. Manche der abgedruckten Fotos bei Arnold sind hingegen unscharf - insbesondere diejenigen, die schwer abzubildende, feine Graphitpausen und -zeichnungen im Institut zeigen. Offensichtlich war dies eine unumgängliche Notwendigkeit, da die Autorin oftmals auf bereits publiziertes Bildmaterial zurückzugreifen hatte (siehe Abbildungsnachweis 169-171). Dennoch gelingt es Arnold erstmals, Vorbild/Modell bzw. Musterbuch, Entwurfszeichnung und deren Umsetzung in der Villa einander gegenüber zu stellen (so beispielsweise Abbildungen 120-124).
Lässt man sich auf Astrid Arnolds eingeschränkte Forschungsperspektive ein, so kann die Arbeit paradigmatisch vermitteln, wie durch sorgfältiges Durchdeklinieren der verwendeten antiken Modelle verschiedener Gattungen eine kongeniale Koproduktion eines klassisch gebildeten Auftraggebers und seines archäologisch interessierten Architekten entstehen konnte. Es bleibt ein Buch für wahre Fans der Antikenrezeption.
Hildegard Wiegel