Dominic Sandbrook: Never had it so good. A History of Britain from Suez to the Beatles, London: Little, Brown Book Group 2005, xxiv + 824 S., ISBN 978-0-316-86083-3, GBP 20,00
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Dominic Sandbrook: White Heat. A History of Britain in the Swinging Sixties, London: Little, Brown Book Group 2006, xviii + 878 S., ISBN 978-0-316-72452-4, GBP 22,50
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Philipp Gassert / Tim Geiger / Hermann Wentker (Hgg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München: Oldenbourg 2011
H. L. Malchow: Special Relations. The Americanization of Britain?, Stanford, CA: Stanford University Press 2011
Robert Lorenz: Protest der Physiker. Die "Göttinger Erklärung" von 1957, Bielefeld: transcript 2011
Auch im pragmatisch-kühlen Großbritannien haben die Verlage mittlerweile die aufregenden Sechzigerjahre entdeckt. Dominic Sandbrook, Fellow am Rothermere American Institute der University of Oxford, hat mit seinen beiden Bänden jenseits des Kanals für einige Furore gesorgt und sich in die Riege junger Starhistoriker hineingeschrieben. Das liegt zum einen daran, dass die Sozial- und Kulturgeschichte jener Jahre bisher kaum historisch-kritisch, sondern vor allem von Zeitzeugen in ihren Memoiren, über affirmative Oral History oder aber innerhalb der Disziplin der "film und cultural studies" erforscht wurde. Zum anderen ist es darauf zurückzuführen, dass Sandbrook sich dezidiert als "Nachgeborener" dieser Geschichte widmen will, wie er polemisch in der Einleitung des ersten Bandes formuliert. Sandbrooks Ziel ist es, das gängige Geschichtsbild der Dekade als "swinging sixties" zu revidieren und an seine Stelle eine konservativere Deutung zu setzen, welche Kontinuitäten betont und einen Wertewandel wesentlich zögerlicher und sozial auf bestimmte Gruppen begrenzt feststellt. Er möchte dies vor allem dadurch erreichen, in dem er seinen Blick von London weg und auf die Entwicklungen in der englischen "Provinz" und von den Studenten und Jugendlichen weg auf die "normalen" Leute richtet. Methodisch geht er dieses Unternehmen durch eine Verbindung politik- und kulturgeschichtlicher Perspektiven an. Dabei wählt er Zäsuren, die sich an Daten der hohen Politik festmachen lassen: nämlich den Regierungsantritt Harold Macmillans nach der für seinen Vorgänger Anthony Eden desaströs verlaufenen Suez Krise und die Wahl des Labour-Politikers Harold Wilson zum Premierminister im Jahre 1964. Auch die Titel der beiden Bände orientieren sich an diesen Zäsuren: Macmillans als Slogan in die britische Zeitgeschichte eingegangene (in Wirklichkeit aber viel ambivalentere) Aussage über die Entwicklung einer britischen Konsumgesellschaft und eines "Age of Affluence" ("You've never had it so good") sowie Harold Wilsons technokratisch-planerische Forderung, sich die "white heat of technology" für gesellschaftlichen Fortschritt konsequent anzueignen.
Eine solche Geschichte zu schreiben, ist angesichts des mitunter dürftigen Forschungsstandes ein ambitioniertes Vorhaben. Doch Sandbrooks Neuinterpretation bleibt schon bei den ersten Schritten im Dickicht des Materials stecken. Ohne weitere Kontextualisierung schildert er beispielsweise altbekannte Vorgänge, wie die Debatte über Suez oder das Entstehen einer von der Konsumgesellschaft getriebenen Populärkultur in den Metropolen. Das ganze reichert er mit Anekdoten an, die zum besseren Verständnis der Vorgänge rein gar nichts beitragen. Obwohl Sandbrook die Bedeutung dieses Bereiches innerhalb seines Interpretationsrahmens eigentlich wesentlich tiefer hängen müsste, erzählt er weitschweifig Geschichten aus der Folkmusik-Szene und über den Ursprung der Beatles. Seine These dagegen versucht Sandbrook mit dem Hinweis auf Meinungsumfragen und ein paar Zeitungsartikel zu untermauern, welche angeblich eine allgemein konservativere Interpretation der Sechzigerjahre nahelegen. Doch, wie Paul Erker für die bundesdeutsche Zeitgeschichte schon festgestellt hat: "mit der detaillierten Aufzählung vom Verbrauch einzelner Dosenfrüchte und Milchprodukte ist noch keine Sozialgeschichte des Konsums geschrieben", ebenso wenig wie mit dem "Nachbeten" von Meinungsumfragen "noch keine Mentalitätsgeschichte entsteht.". [1]
Die Probleme von Sandbrooks antiquarisch-anekdotischem Vorgehen zeigen sich noch deutlicher im zweiten Band, weil hier die Forschungen zu den sozialen Entwicklungen, die Sandbrook abschöpft, noch in den Anfängen stecken. Sie offenbaren sich schon im ganz ohne Ironie gewählten Untertitel "Britain in the Swinging Sixties". Seine These von der konservativen Prägung der Dekade zerbröselt denn auch in den detaillierten und nicht weiter kontextualisierten Schilderungen der britischen Popmusikszene. Bemerkungen zu Politik und Wirtschaft stehen unverbunden daneben. Warum Sandbrook die Sechzigerjahre (wie im übrigen auch die Historiker, deren Interpretationen er ablehnt) als "lange sechziger Jahre" konzeptualisiert und warum er sie gerade 1970 enden lässt, bleibt sein Geheimnis.
Die Gründe für Sandbrooks Scheitern liegen jedoch tiefer als lediglich in der mangelhaften Beherrschung des Stoffes. Sie können auf seinen Ansatz zurück geführt werden. Sandbrooks revisionistische Geschichtsdeutung verhält sich zur vorherrschenden Interpretation eines tief greifenden Wertewandels letztlich affirmativ und kann so die Komplexität gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, welche alle westeuropäischen Gesellschaften jener Zeit kennzeichnete, nicht stringent herausarbeiten. Es macht sich sehr deutlich bemerkbar, dass sich der Autor nur selten selbst mit den Quellen befasst und lediglich die Befunde einiger ausgewählter Forschungsbereiche abgeschöpft hat, ohne aber, wie etwa im Bereich der Wirtschaftspolitik, der sozialen Bewegungen und auch der Politik und Kultur der Labour-Partei, auch nur entfernt an die Differenziertheit der Forschungsliteratur heranzukommen.
Man fragt sich auch, welche Zielgruppe für das Buch Sandbrook und der Verlag wohl im Kopf hatten. Als Nachschlagewerk sind diese beiden Bände, trotz des detaillierten Registers, zu unpraktisch und auch nicht immer verlässlich auf der Höhe der Forschung. Das eigentliche, in den Einleitungen der Bände so vollmundig formulierte Ziel, kann Sandbrook jedenfalls nicht einlösen. Das Ergebnis ist Stückwerk. Da der Autor die Masse des von ihm zusammengetragenen Materials nicht kontrollieren konnte, bietet sein Buch nicht einmal eine spannende Erzählung, die als Hausbuch für die gebildeten Stände als abendliche Kaminlektüre hätte dienen können. Das Geld für diese beiden Bänden sollte man sich also lieber sparen. [2]
Anmerkungen:
[1] Paul Erker: Zeitgeschichte als Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), 203-38, hier 212.
[2] Interessierte Leser seien deshalb auf den zwar auch nicht voll und ganz überzeugenden, aber analytisch ertragreicheren Überblick von Mark Donnelly verwiesen: Sixties Britain: Culture, Society and Politics, London 2005.
Holger Nehring