André Steiner (Hg.): Preispolitik und Lebensstandard. Nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik im Vergleich (= Zeithistorische Studien; Bd. 35), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 224 S., ISBN 978-3-412-30405-8, EUR 29,90
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"It's the economy, stupid", belehrte vor Jahren Präsidentschaftskandidat Bill Clinton einen Mitarbeiter über die seiner Ansicht nach wahlentscheidende Bedeutung der volkswirtschaftlichen Lage. In diesem Sinne rückt der Herausgeber André Steiner den Konnex zwischen der staatlichen Verbraucherpreispolitik, dem allgemeinen Lebensstandard und der Legitimität von wirtschaftlich-politischen Systemen in den Vordergrund und an den Anfang seiner Ausführungen - zu Recht! Denn die Akzeptanz, welche ein politisches System oder eine demokratisch gewählte Regierung bei der Bevölkerung genießt, hängt im hohen Maße von deren Zufriedenheit mit den aktuellen Lebensumständen bzw. von deren Erwartungshaltung bezüglich der künftigen Entwicklung ab.
Nun verfügt der Staat über eine ganze Reihe von Instrumenten, um die materielle Situation seiner Bürger zu beeinflussen. Eines davon ist die (Verbraucher-)Preispolitik. Mit Hilfe von Preisüberwachung, -empfehlungen, -festsetzungen u. a. m. kann die private Kaufkraft gestärkt, aber auch geschwächt werden. Zu welchem Zwecke, in welcher Weise und mit welchem Erfolg all diese Instrumentarien eingesetzt werden, hängt von den politisch-ideologischen Zielvorgaben, dem jeweils gegebenen institutionellen Ordnungsrahmen und bis zu einem gewissen Grad von den eingebundenen Akteuren ab. Wie man sich nun diese Zusammenhänge genauer vorstellen muss, dieser Frage gingen André Steiner, Jennifer Schevardo und Irmgard Zündorf im Rahmen eines von der Volkswagenstiftung geförderten und am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam angesiedelten Forschungsprojektes nach.
Besonders vielversprechend erscheint das vergleichend angelegte Untersuchungskonzept. In einem ersten Schritt unterziehen die drei Autoren in Einzelstudien das NS-Regime, die SED-Diktatur und die bundesdeutsche Demokratie einem weitgehend einheitlichen Analyseraster. Konkret arbeiten sie die für die Verbraucherpreisbildung relevanten Faktoren heraus und analysieren deren intendierte bzw. tatsächlich nachweisbare Folgewirkungen. Weiterhin diskutieren sie die jeweiligen Konsequenzen staatlicher Preispolitik für den allgemeinen Lebensstandard und die damit indirekt verknüpfte Frage der Systemstabilität und -legitimität. Da die amtliche Statistik des NS-Regimes wie auch der DDR keine verlässliche Informationsgrundlage bietet, berechnen Steiner und Schevardo zusätzlich für beide Diktaturen die Lebenshaltungsindizes neu. Zeitlich konzentrieren sich die Untersuchungen auf die jeweils frühen Phasen der einzelnen Herrschaftssysteme: Steiner analysiert die NS-Preispolitik während der Jahre 1933-1939, Schevardo die SED-Maßnahmen in der Zeit von 1948-1961 und Zündorf beschränkt sich für die Bundesrepublik auf die Jahre 1948-1963. In einem zweiten Arbeitsschritt fasst André Steiner die bis dahin erarbeiteten Befunde vergleichend zusammen.
Alles in allem präsentieren die Autoren eine Fülle interessanter Details, von denen einige besonders bemerkenswerte hier genannt seien. Steiner macht deutlich, dass die NS-Preispolitik dem übergeordneten Ziel einer allgemeinen "Wehrhaftmachung" zuarbeitete und dementsprechend private Kaufkraft abzuschöpfen suchte. Infolgedessen stagnierte bzw. sank der allgemeine Lebensstandard im Vergleich zum Jahr 1928. Trotzdem erfreute sich das Regime großer Popularität, was Steiner u. a. auf die seinerzeit im öffentlichen Bewusstsein dominierende Vergleichsgröße "Krisenjahr 1932" zurückführt. Götz Alys für die Kriegsjahre bemühte These von der "Gefälligkeitsdiktatur" lehnt der Autor mit Blick auf den von ihm ins Auge gefassten Zeitraum dezidiert ab. Jennifer Schevardo vermag überzeugend nachzuweisen, dass die Lebenshaltungskosten in der DDR zwischen 1950 und 1955 tatsächlich deutlich sanken, nicht aber in dem von der amtlichen Statistik angegebenen Ausmaße. Entgegen offizieller Verlautbarungen setzte mit dem Ende der Rationierungsmaßnahmen im Jahre 1958 eine Preissteigerung ein, die sehr wohl den Lebensstandard der breiten Bevölkerung senkte. Für die junge Bundesrepublik postuliert Irmgard Zündorf zwei Phasen staatlicher Preispolitik. Während die steuernden Eingriffe zwischen den Jahren 1948 und 1952 in Anknüpfung an das Kriegs- und Nachkriegsreglement die Probleme einer Mangelwirtschaft lindern sollten, zielten die später angewandten Maßnahmen (1953-1963) auf den Schutz bestimmter Produzenten- bzw. Konsumentengruppen. Der hierfür verantwortliche Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard stand stets vor der Frage, welche preispolitischen Eingriffe er mit seiner marktwirtschaftlichen Grundüberzeugung noch vereinbaren konnte.
Da die meisten der in den Einzelstudien präsentierten Befunde bereits andernorts publiziert worden sind, verspricht vor allem das vergleichende Resümee von Steiner weiterführende Erkenntnisse. Der Autor betont die in allen drei politischen Systemen zentrale Rolle des Staates für die jeweilige Wirtschaftsordnung, wobei ihre konkrete Ausgestaltung doch sehr unterschiedlich ausfiel. Vergleichsweise zurückhaltend agierte die marktwirtschaftlich orientierte Bundesregierung auf dem Feld der Preispolitik, das NS-Regime praktizierte eine Fülle aktionistischer Einzelmaßnahmen, und die SED verfolgte wohl am systematischsten den Ansatz einer staatlichen Verbraucherpreispolitik. Auch wenn, in Abhängigkeit der ideologischen Grundlagen, die politischen Ziele voneinander abwichen, sahen sich alle drei Regierungssysteme mit Zielsetzungskonflikten konfrontiert, was angesichts der Vielzahl unterschiedlicher, individueller wie korporativer Akteure wenig überrascht. Besonders spannend erweisen sich die vergleichende Betrachtung der Preis- und Reallohnentwicklung. Dabei wird deutlich, dass sich das NS-Regime trotz vergleichsweise ungünstiger Fundamentaldaten einer höheren Akzeptanz in der Bevölkerung erfreute als die SED-Herrschaft. Offenkundig kompensierten, so Steiner, weitere Faktoren (u. a. Abbau von Arbeitslosigkeit, außenpolitische Erfolge) die eigentlich zu erwartenden Negativeffekte. Hinzuweisen wäre an dieser Stelle sicher auch auf die Relevanz der von der Bevölkerung jeweils bevorzugt wahrgenommenen Vergleichsgrößen (u. a. Krisenjahr 1932, Lebensstandard in Westdeutschland).
Fazit: Mit diesem Sammelband steuern die Autoren zahlreiche detaillierte, teilweise quantifizierende Argumente zur lange diskutierten Frage von Akzeptanz und Legitimität politischer Herrschaft bei. Vor allem konturiert der gelungene Dreiervergleich sehr deutlich die Spezifika der Entscheidungsfindungen in unterschiedlichen Systemen sowie deren Folgewirkungen. Und nicht zuletzt dokumentieren Herausgeber und Autorinnen und Autoren mit dem vorgelegten Werk ein schlüssig konzipiertes und auf hohem wissenschaftlichen Niveau umgesetztes Forschungsprojekt.
Peter E. Fäßler