Peter Krewer: Geschäfte mit dem Klassenfeind. Die DDR im innerdeutschen Handel 1949-1989, Trier: Kliomedia 2008, 332 S., ISBN 978-3-89890-122-2, EUR 36,00
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Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sind weitgehend aus der öffentlichen Erinnerung verschwunden. Am ehesten dürften die beiden Milliardenkredite im kollektiven Gedächtnis präsent sein, die der stramme Antikommunist Franz-Josef Strauß in den frühen 1980er Jahren nach Ostberlin vermittelt hatte. Auch die dubiosen Geschäfte des Bereichs "Kommerzielle Koordinierung" im DDR-Außenhandelsministerium unter Leitung von Alexander Schalck-Golodkowski stoßen noch auf ein gewisses, gleichwohl abnehmendes öffentliches Interesse.
Darüber hinaus aber spielen die innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen in der zeithistorischen Diskussion um die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte nur eine marginale Rolle. Angesichts ihrer Bedeutung überrascht das ihnen entgegengebrachte Desinteresse, welches sich u.a. an der überschaubaren Anzahl einschlägiger Monografien ablesen lässt. [1] Nun hat Peter Krewer mit seiner in Trier bei Lutz Raphael angefertigten Dissertation eine weitere Untersuchung zum Thema vorgelegt. Sie umfasst die gesamten vier Jahrzehnte deutscher Doppelstaatlichkeit, berücksichtigt also auch die bislang kaum erforschten 1970er und 1980er Jahre. Ein besonderes Augenmerk legt der Autor nach eigener Aussage auf Akteure und Vorgänge in der DDR, weil die entsprechende Quellenüberlieferung von SED, Behörden und Unternehmen bekanntlich bis zum Jahr 1989 für Historiker zugänglich ist.
Peter Krewer entwickelt ein ambitioniertes Forschungsprogramm, dem er vier "Leitfragen" voranstellt: Er beabsichtigt - erstens - die handlungsleitenden Motive und organisatorischen Rahmenbedingungen auf ostdeutscher Seite herauszuarbeiten. Zweitens beschäftigt ihn die Frage nach dem deutschlandpolitischen Stellenwert der Wirtschaftsbeziehungen. Als drittes Erkenntnisziel will der Autor die tatsächlichen Folgewirkungen des innerdeutschen Handels auf die DDR-Volkswirtschaft benennen, und viertens möchte er prüfen, in welchem politischen Spannungsverhältnis sich der Handel mit Westdeutschland zur SED-Ideologie befand.
Es fällt auf, dass in den detaillierten Ausführungen zum Interzonenhandel (1945-1949) sowie zum deutsch-deutschen Handel bis 1972/73, soweit er sich im Rahmen des Berliner Abkommens (1951/1960) vollzog, die Motive und Entscheidungen der Akteure beider deutscher Staaten gleichermaßen beleuchtet werden. Erst jener Teil der Untersuchung, der die 1970/80er Jahre behandelt, fokussiert auf die DDR, wie es der Buchtitel erwarten lässt. Erstaunlicherweise blendet Krewer aber für diesen Zeitraum den auf Basis des Berliner Abkommens durchgeführten Handel nahezu völlig aus. Statt dessen konzentriert er sich auf hinlänglich bekannte Geschäfte des Bereichs "Kommerzielle Koordinierung", als da wären Kunst- und Antiquitätenhandel, Müllverschiebung und illegale Warentransfers.
Krewers Dissertation verzichtet auf einen theoretischen Analyserahmen, der Autor schreibt ausgesprochen ereignisorientiert. Diese Vorgehensweise ist in der Zeitgeschichtsschreibung durchaus üblich, setzt aber eine dem Forschungsvorhaben angemessene Quellenbasis voraus. Eine solche ist bei der vorliegenden Studie nicht zu erkennen. Beispielsweise fehlen für die Analyse der Interessenlagen und Entscheidungsabläufe innerhalb der politischen Führungsebene der DDR die entscheidenden Quellenbestände von Politbüro, Zentralkomitee und den ihnen nachgeordneten Fachabteilungen. Mögliche Folgewirkungen der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen auf die DDR-Volkswirtschaft analysiert der Autor unter weitgehendem Verzicht auf statistische Daten. Als einzige Tabelle listet er im Anhang die hinlänglich bekannten Überblicksangaben des Statistischen Bundesamtes zum deutsch-deutschen Handel auf. Wirtschaftsstatistisches Material von DDR-Behörden, das bei aller gebotenen Vorsicht für die Thematik sehr wohl relevant wäre, sucht man vergebens.
Krewers Quellenauswahl birgt noch ganz andere Rätsel. So schmücken zahlreiche archivalische Quellenangaben die Fußnoten seiner Ausführungen, soweit sie die frühe Phase der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen betreffen. Etliche davon finden sich auch in den erwähnten einschlägigen Monografien. Überraschenderweise sprudeln die Archivquellen ab den frühen 1970er Jahren nur noch sehr spärlich, denn anders lassen sich die jetzt dominierenden Verweise auf Bundestagsdrucksachen der Jahre 1992 bis 1994 kaum erklären.
Ebenso eigenwillig wie die Quellenauswahl setzt Krewer auch seine thematischen Schwerpunkte. Er begründet nicht, weshalb er für die ersten beiden Jahrzehnte sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR in seiner Analyse gleich stark gewichtet, nicht aber für die beiden nachfolgenden Dekaden. Eine Erklärung dafür, dass er ab den 1970er Jahre fast ausschließlich auf die Aktivitäten des Bereichs "Kommerzielle Koordinierung" fokussiert, bleibt er ebenfalls schuldig. Kleinere Merkwürdigkeiten, etwa die ausführlich behandelte Thalheim-Gleitze-Kontroverse und die ebenso ausführliche Analyse von Schalck-Golodkowskis Dissertation - beide Exkurse tragen nichts Wesentliches zur eigentlichen Problematik bei und sind andernorts bestens nachzulesen -, seien nur am Rande benannt. Es fällt auf, dass der Autor seine thematischen Schwerpunkte ausgerechnet dort setzt, wo unsere Kenntnisse bereits recht gut sind, und dass er einen Bogen um offenkundige Forschungslücken schlägt.
Krewers Antworten auf die eingangs formulierten "Leitfragen" fallen einigermaßen unbefriedigend aus. So kommt er mit Blick auf die Auswirkungen des deutsch-deutschen Handels auf die DDR-Volkswirtschaft zu dem Schluss, dass sie in langfristiger Perspektive den Verfall des kleineren der beiden deutschen Staaten mit herbeigeführt hätten. Nähere Erläuterungen zu diesem interessanten Gedanken fehlen, eine Vorstellung von den quantitativen Dimensionen liefert der Autor nicht. Die These, dass die ökonomische Interessenlage handlungsbestimmend für die maßgeblichen Akteure in Ostberlin war, ist grosso modo zutreffend. Auch liegt der Autor richtig, wenn er deren seit den 1970er Jahren wachsende Bereitschaft erkennt, auf ökonomische Zugeständnisse der Bundesregierung mit Entgegenkommen im politischen bzw. humanitären Bereich zu reagieren. Aber das sind Einsichten, die bereits der aufmerksame Zeitgenosse gewinnen konnte. Der Rezensent hätte sich eine differenzierte Analyse der Gemengelage widersprüchlicher Interessen und ihrer Vertreter innerhalb der sozialistischen Machtzentrale gewünscht. Leider versäumt es Krewer, spannende Fragen etwa nach der Schmerzgrenze bei politisch-humanitären Zugeständnissen seitens der SED-Führung zu stellen, geschweige denn zu beantworten.
Was bleibt als Quintessenz? Vielleicht jener letzte Satz, der anscheinend den Kern der Dissertation auf den Punkt bringt: "Jener Teufelskreislauf von wirtschaftlicher Schädigung und gesellschaftlicher Spaltung Ostdeutschlands bei gleichzeitiger kurzfristiger Herrschaftsstabilisierung und darauf folgendem erneutem sozio-ökonomischen Schaden durch weitere KoKo-Aktionen wurde erst durch den Zusammenbruch der SED-Diktatur beendet." Aha.
Anmerkung:
[1] Friedrich von Heyl: Der innerdeutsche Handel mit Eisen und Stahl 1945-1972. Deutsch-deutsche Beziehungen im Kalten Krieg, Köln 1997; Peter E. Fäßler: Durch den "Eisernen Vorhang". Die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen 1949 bis 1969, Köln, Weimar, Wien 2006; Michael Kruse: Politik und deutsch-deutsche Wirtschaftsbeziehungen von 1945 bis 1989, Berlin 2005.
Peter E. Fäßler