Dina Le Gall: A culture of Sufism. Naqshbandis in the Ottoman world, 1450 - 1700, Albany, NY: State University of New York Press 2005, X + 285 S., ISBN 978-0-7914-6245-4, USD 45,00
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Wer in die Geschichte des Sufi-Ordens der Naqšbandiyya im Osmanischen Reich eintauchen will, hat zumeist nur ein kurzes Vergnügen, weil er fast nur oberflächennah, d.h. im 19. Jahrhundert fündig wird. Nicht, dass die charismatische Figur des Ḫālid an-Naqšbandī (gestorben 1826) diesen Tauchgang nicht wert wäre, aber die frühere Geschichte des Ordens ist bislang - sieht man vom Wirken des Aḥmad Sīrhindī (Imām Rabbānī) im 17. Jahrhundert ab - wissenschaftlich nicht umfassend studiert.
Dina Le Galls Dissertation über die Naqšbandiyya im Osmanischen Reich knüpft an eben dieses Problem an. Sie gliedert ihre Studie in zwei Hauptteile. In der ersten Hälfte widmet sie sich der frühen und frühesten Ausbreitung des Ordens (über die Aḥrār-Ḫalīfen) vom transoxanischen Kernland über Istanbul, Anatolien und Balkan bis zum Ḥiǧāz). Auch wenn für die prämuǧaddidī Phase eher von einer Dispersion an Stelle von Dissemination des Ordens zu sprechen wäre, arbeitet Le Gall doch gut heraus, dass die osmanische Naqšbandiyya transoxanischen Ursprungs war und trotz ihrer Marginalisierung transoxanische Linien noch weiter exisitieren.
In der zweiten Hälfte der Untersuchung widmet sich Le Gall der frühen Kultur des Ordens, seiner Einbettung in die osmanische Gesellschaft und der Interaktion mit den Herrschaftseliten. In diesem Kapitel werden wesentliche Denkansätze verschiedener Hauptakteure des Ordens diskutiert. Dabei fungieren Naqšbandīs als "effective agents of cultural transmission and facilitators of interregional and intergroup integration" (182).
Anders als alle anderen mystischen Orden verstehen und verstanden sich die Naqšbandīs, da ihre silsila auf den ersten Kalifen Abū Bakr zurückgeht, als eine vorwiegend sunnitische ṭarīqa mit rechtlich unterschiedlicher Ausprägung. Genau aus diesem Grund rückte die Naqšbandiyya (später) durch ihre selbstpropagierte šarīÝa-Treue in einen Orthodoxie-Diskurs der Mystik, unter dem die Naqšbandīs der Frühzeit allerdings, so Le Gall, eher einen Kanon von Orthodoxie verstanden haben.
Mehr als die Orden der Qādiriyya oder Mawlāwiyya zeichnet sich die Naqšbandiyya durch eine enorme Triebkraft aus. Sie war von Anbeginn Aufnahmebecken älterer mystischer Traditionen und hat sich in der heutigen Zeit bis zu den Nurcu und Süleymanci weiter verzweigt. Dass er sich über die Jahrhunderte hinweg stetig verbreitete, hat unmittelbar mit der elastischen Struktur des Ordens und seines rābiṭa-Prinzips (Herzensbindung an den Meister) zu tun. So verdankte die frühe Naqšbandiyya ihre Verbreitung dem Aktivismus ihrer Anhänger, den Reisen, der literarischen Produktion und Kultivierung der eigenen mystischen Traditionen und nicht der Patronage des osmanischen Staates.
Durch die Dominanz der aus Indien stammenden Muǧaddidiyya und der Ḫālidiyya im 19. Jahrhundert hat der zentralasiatische Zweig der Naqšbandiyya eine Marginalisierung erfahren, die die ursprüngliche Vielfältigkeit der frühen Naqšbandī-Anhänger vergessen machen kann, so dass er in der Selbst und -Fremdbeschreibung kaum zur Geltung kommt. So sehr man sich mit dieser These Le Galls anfreunden kann, stellt sich dennoch die Frage, warum sie nicht durch eine Neudiskussion der Quellen diese frühere Vielfalt zu belegen versucht, sondern wesentliche Aussagen ihrer Arbeit auf moderne Studien über die Naqšbandiyya stützt. Ergiebiger wäre gewesen, einige wesentliche Passagen aus den Primärwerken der frühen Naqšbandī-Anhänger unter dem Gesichtspunkt der Transition oder Formierung eines eigenen Ordenskultes zu erörtern.
Einen Orden über einen Zeitraum von 250 Jahren und solcher geographischer Ausbreitung ohne präzisere Fragestellung zu untersuchen, wie Le Gall es macht, ist ein heikles Unterfangen, denn die von vornherein relativ schwache Fokussierung auf wesentliche Einzelfragen büßt an mancher Stelle doch sehr an Aussagekraft ein. Die Autorin nimmt kaum Stellung zu den peripheren Bedingungen des Osmanischen Reiches, der Wandlung und Transformation von Herrschaft und Zentrale. Welche Art von Religionspolitik wurde im 16. Jahrhundert betrieben, die berechtigt, von einer osmanischen Naqšbandiyya zu sprechen? Nachvollziehbarer wäre es gewesen, die Studie auf einen gewissen Raum zu beschränken und so die Interaktion zwischen osmanischer Oberhoheit in politischer und ideologischer Sicht, außer in ihrer reduzierten Funktion der äußeren Staatshülle, mit den Transformationen innerhalb des Ordens und ihrer materiellen Grundlagen zu skizzieren.
Alev Masarwa