Rezension über:

Andreas Wirsching (Hg.): Oldenbourg Geschichte Lehrbuch. Neueste Zeit, München: Oldenbourg 2006, 478 S., 58 Abb., 4 Karten, 8 Graphiken, ISBN 978-3-486-20029-4, EUR 34,80
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Rezension von:
Thomas Schlemmer
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Schlemmer: Rezension von: Andreas Wirsching (Hg.): Oldenbourg Geschichte Lehrbuch. Neueste Zeit, München: Oldenbourg 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 7/8 [15.07.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/07/10849.html


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Diese Rezension ist Teil des Forums "Einführungsliteratur" in Ausgabe 7 (2007), Nr. 7/8

Andreas Wirsching (Hg.): Oldenbourg Geschichte Lehrbuch. Neueste Zeit

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Das vorliegende Werk ist der vierte Band der Reihe "Oldenbourg Geschichte Lehrbuch", in der auch die Bände zur Alten Geschichte, zur Mittelalterlichen Geschichte und zur Geschichte der Frühen Neuzeit bereits erschienen sind. Der Herausgeber, der Augsburger Ordinarius für Neuere und Neuste Geschichte Andreas Wirsching, hat es sich zum Ziel gesetzt, mit diesem Buch dazu beizutragen, "dem studierenden Leser den unerschöpflichen Reichtum der Neuesten Geschichte nahezubringen, ohne ihn zu entmutigen; ihm einige grundlegende Kenntnisse zu vermitteln, ohne ihn in der Flut der Einzelinformationen untergehen zu lassen; ihm die Pluralität möglicher Fragen und Ansätze vorzuführen, ohne der Beliebigkeit zu verfallen; ihm übergreifende Probleme und Zusammenhänge aufzuzeigen, ohne das exemplarische Detail zu vergessen; ihm schließlich einfach Lust auf Geschichte zu machen, ohne ihn mit der Bürde (beruflicher) Zweckhaftigkeit zu beschweren." (10) Dieses Lehrbuch ist also, mit anderen Worten, mehr an Strukturen und Prozessen als an Ereignissen orientiert, stellt übergeordnete Entwicklungen in den Mittelpunkt und will so die Grundzüge einer Epoche herausarbeiten, die sich vom späten 18. Jahrhundert bis an die Schwelle der Gegenwart erstreckt. Der Schlüssel zum Verständnis der Neuesten Zeit liegt für den Herausgeber und seine Co-Autoren dabei im Begriff "Moderne", der auch das Scharnier zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert bildet. Die Konzentration auf Prozesse, die vor allem mit Europa und Nordamerika verbunden sind, bringt eine gewisse Engführung mit sich, die jedoch nicht zuletzt mit Blick auf eine studentische Leserschaft bewusst in Kauf genommen wurde, die sich in Vorlesungen und Seminaren nach wie vor hauptsächlich mit der deutschen Geschichte in ihrem europäisch-atlantischen Zusammenhang befasst.

Der erste Teil des Bandes, der etwa 170 Seiten umfasst, ist der Neuesten Geschichte als Epoche gewidmet und zerfällt in zwei thematische Blöcke, die dem 19. und dem 20. Jahrhundert gewidmet sind. Ersteres wird dabei historischer Ort politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Prozesse betrachtet, die für die Entfaltung der Moderne unabdingbar waren; entsprechend finden sich hier Kapitel über den "Durchbruch der bürgerlichen Gesellschaft" (Ralf Roth), die Industrialisierung und den Verlust traditioneller Lebenswelten (Günther Schulz), die "Entstehung der Nation als Deutungskategorie" (Silvia Serena Tschopp), "politisches Denken und politische Strömungen" (Hans-Christof Kraus) sowie die "Revolution der Wissenschaften" (Constantin Goschler). Das 20. Jahrhundert steht dagegen im Zeichen der "Krise und Ambivalenz der Moderne", deren progressiv-fruchtbares wie gewalttätig-zerstörerisches Potenzial in den fünf Teilkapiteln "Lebenswelten in der Moderne" (Merith Niehuss), "industrielle Massengesellschaften zwischen Demokratie und Diktatur" (Dirk Schumann), "Totaler Krieg und Massenvernichtung" (Johannes Hürter), das "Atomzeitalter und die Bipolarität der Welt" (Eckart Conze) sowie "Konsumgesellschaft, moderner Sozialstaat und 'Wertewandel'" (Andreas Rödder) aufgezeigt wird. Der Vorteil dieses Konzepts liegt in seiner Geschlossenheit und in seiner interpretatorischen Überzeugungskraft, der Nachteil besteht darin, dass Schlüsselereignisse des 20. Jahrhunderts, an denen man die Ambivalenz der Moderne gemeinhin festmacht, wie die beiden Weltkriege oder die Ermordung der europäischen Juden durch das NS-Regime keine eigenständige Darstellung finden können.

Dem Epochenüberblick folgt ein Abschnitt über mögliche Zugänge zur Neuesten Geschichte, der - dem Gang der Forschung folgend - von der Geschichte der Staaten und ihrer Beziehungen (Günther Kronenbitter), der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte (Thomas Welskopp) und den "Konjunkturen der Biographik" (Cornelia Rauh-Kühne) bis zu den aktuell diskutierten Konzepten der "Neuen Kulturgeschichte" (Willibald Steinmetz), der "Weltgeschichte" (Peer Schmidt) und der Postmoderne (Thomas Raithel) reicht. Dieser Teil ist mit dem folgenden Abschnitt über das "Vorgehen der Forschung" verzahnt, der neben einer Skizze der "Entfaltung der modernen Geschichtswissenschaften im 19. Jahrhundert" (Stefan Grüner) auch einen Überblick über Quellen und Archive enthält. Die interdisziplinären Perspektiven der Geschichtswissenschaft werden ebenfalls angesprochen, wobei mit Volkskunde, Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft freilich nur drei Nachbardisziplinen Erwähnung finden; dass beispielsweise die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften fehlen, verwundert. Der letzte Abschnitt ist den Archiven, Bibliotheken und Forschungseinrichtungen in Deutschland, wichtigen europäischen Nachbar- und Partnerstaaten sowie in Nordamerika gewidmet. Angesichts der wachsenden Bedeutung internationaler Kontakte und der zunehmenden Vernetzung der Forschung hätte man sich diesen Teil etwas umfangreicher, differenzierter und vielleicht auch praxisorientierter gewünscht.

Alles in allem ist das schwierige Experiment "Lehrbuch: Neueste Zeit" geglückt, zumal die einzelnen Teilkapitel durch Zeittafeln, Literaturhinweise, biografische und sachthematische Skizzen, und die zusammenfassende Darstellung wichtiger Forschungsmeinungen ergänzt werden. Karten sind dagegen leider dünn gesät, aber das tut dem angestrebten "'interaktiven' Modus" (11) des Bandes kaum einen Abbruch. Wer mit dem Studium beginnt, wird mit diesem Band vielleicht aufgrund der dichten Darstellung und der Komplexität der Sachverhalte noch überfordert sein - und vielleicht auch enttäuscht, weil er Hinweise zur Organisation seines universitären Alltags und zur Technik wissenschaftlichen Arbeitens vergeblich sucht. Aber wer die ersten Schritte bereits gemacht hat, der wird hier einen zuverlässigen Begleiter finden, den man immer wieder zurate ziehen kann. Zudem ist dieses Buch nicht nur ein Lern-, sondern tatsächlich auch ein Lehrbuch, das auch Dozentinnen und Dozenten für ihre Lehrveranstaltungen im Grundstudium wertvolles Material an die Hand gibt.

Thomas Schlemmer