Andreas Wirsching: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 58), 2., um einen Nachtrag erw. Aufl., München: Oldenbourg 2008, XI + 198 S., ISBN 978-3-486-58736-4, EUR 19,80
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Die "Enzyklopädie deutscher Geschichte" stellt gleichsam den kleinen, wesentlich auf die deutsche Geschichte beschränkten Ableger der seit gut drei Jahrzehnten überaus erfolgreichen Reihe "Oldenbourg Grundriss der Geschichte" dar. In beiden, speziell für die Bedürfnisse von Lehre und Studium gestalteten Buchreihen vereint jeder Band eine gedrängte Darstellung des Gegenstandes mit einem Forschungsbericht und einem ausführlichen Literaturverzeichnis. In der seit 1988 im Erscheinen begriffenen, auf rund 100 Bände angelegten "Enzyklopädie" werden Neuauflagen bislang in der Regel nicht vollständig überarbeitet, sondern um einen Nachtrag erweitert. So legt auch Andreas Wirsching seine erstmals im Jahr 2000 publizierte Monographie zur inneren Entwicklung der Weimarer Republik im Kern unverändert, jedoch mit einem 24-seitigen Nachtrag zur seitherigen Entwicklung der Forschung sowie im Quellen- und Literaturverzeichnis um 182 Titel ergänzt vor.
Wirsching nutzt den knappen zur Verfügung stehenden Raum durch strengste Konzentration auf Wesentliches, indem er sich im "Enzyklopädischen Überblick" strikt auf die Entstehungs- und Endphase der Republik, auf Parteien und Parteiensystem und auf den Charakter der Weimarer Demokratie als Sozial- und Interventionsstaat beschränkt. In den "Grundproblemen und Tendenzen der Forschung" geht er darüber hinaus auf die Komplexe Wirtschaft und Gesellschaft, politische Kultur und sozialmoralische Milieus sowie auf die Feinde der Republik und die Möglichkeiten und Ansätze zu ihrer Bekämpfung ein. So entsteht ein Aufriss von Grundstrukturen und Problemen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung und Entwicklung des Weimarer Staates, der keine wesentlichen Aspekte unberücksichtigt lässt.
Andreas Wirsching betreibt kritische Geschichtswissenschaft im besten Sinne insofern, als bei ihm buchstäblich kein Akteur der Weimarer Politik und Gesellschaft gut davonkommt, bei allem Bemühen um Verständnis für die Menschen, deren Handlungsoptionen und -spielräume durch eine Fülle von strukturellen Vorbelastungen und ungünstigen Ausgangsbedingungen, durch tiefgreifende wirtschaftliche und finanzielle ebenso wie durch soziale Probleme und Spannungen stark eingeengt waren oder doch schienen. Mit relativer Nachsicht beurteilt Wirsching noch die SPD. Die (Mehrheits-)Sozialdemokraten hätten in der Revolution 1918/19 klare politische Ziele verfolgt, "parlamentarische Demokratie, Verhältnis- und Frauenwahlrecht, Verbesserung der materiellen Arbeitsverhältnisse und Ausbau des Sozialstaats" (5), woraus drei zentrale Basisentscheidungen resultierten: die Absprache mit der Obersten Heeresleitung zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, der Versuch zur Zusammenarbeit der Gewerkschaften mit dem Unternehmerlager auf der Basis beiderseitiger Anerkennung und Gleichberechtigung sowie die Entscheidung für rasche allgemeine Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Wirsching stört sich hierbei zurecht weniger an vorgeblichen Versäumnissen der MSPD-Politik im Hinblick auf eine tiefgreifende Revolutionierung der deutschen Gesellschaft, wiewohl sich daraus bald eine Kluft zwischen revolutionärer Enttäuschung und gegenrevolutionärer, auch gewaltbereiter Mobilisierung ergeben habe, als an der folgenreichen Tatsache, dass sich schon die Regierung der Volksbeauftragten sicherheitspolitisch vollständig in die Hand der alten Kräfte, das heißt der Obersten Heeresleitung und der Freikorps, begeben habe. Das Desinteresse der Sozialdemokratie an Militärfragen und ein entsprechender Mangel an militärpolitischer Programmatik habe so "das aus dem preußischen Obrigkeitsstaat herrührende konstitutionelle Spezifikum des Kaiserreiches, die mangelnde Durchsetzung der zivilen Prärogative gegenüber der bewaffneten Macht, [...] als ein Strukturmerkmal in die Weimarer Republik übertragen" (6).
Auch für die Tolerierungspolitik der SPD-Reichstagsfraktion gegenüber der Regierung Brüning wirbt Wirsching um Verständnis: Innerhalb eines stark eingeschränkten Handlungsspielraums habe ihr Kalkül darin bestanden, "Hitler zu verhindern und die Reste des Parlamentarismus zu verteidigen" sowie die Weimarer Koalition in Preußen zu bewahren (35 f.). Demgegenüber fällt Wirsching ein insgesamt vernichtendes Urteil über die sukzessive Erosion der liberalen Parteien der bürgerlichen Mitte, die nie zu einer wirklich systemkonformen Oppositionsrolle findende Deutschnationale Volkspartei - insbesondere "das Resistenzpotential der protestantisch-bürgerlichen Parteien" gegenüber dem Nationalsozialismus habe sich als "zu gering" erwiesen (23) -, wie auch das Zentrum. Gewiss habe es "maßgeblich zur Überlebensfähigkeit der parlamentarischen Demokratie beigetragen", doch sei die Partei der Katholiken normativ "durch die christliche Staatslehre und nicht durch den demokratischen Verfassungsgedanken" gebunden gewesen und habe "eine innere Distanz zu Parlamentarismus und Demokratie [...] mehrheitlich nicht zu überwinden" vermocht (63, vgl. auch 124). In ähnlicher Weise kritisch analysiert Wirsching etwa die Rolle von Unternehmerverbänden und Agrariern oder die völkisch-nationalistische, mitunter auch bereits rassenbiologische Grundierung der verschiedensten Wissenschaftszweige in der Weimarer Republik.
Obwohl Wirsching primär die Belastungsfaktoren herausarbeitet, unter denen die Weimarer Demokratie schließlich zerbrach, betont er doch verschiedentlich auch die Chancen der Republik, die Offenheit der Situation. Die in der Reichsverfassung angelegte Möglichkeit der Entwicklung zur Diktaturgewalt etwa sei "kaum vorauszusehen" gewesen, erfolgte allmählich "und unterlag auch keiner Zwangsläufigkeit" (11). Zum Wendepunkt in der politischen Geschichte Weimars gerät erst der Rücktritt der sozialdemokratisch geführten Reichsregierung Hermann Müllers am 27. März 1930: "Das Ende der Großen Koalition stellt ohne Zweifel eine der tiefsten Zäsuren in der Geschichte der Weimarer Republik, ja der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert dar. Es bedeutete nicht nur das Ende des Weimarer Parlamentarismus, sondern verschob auch die politische Symmetrie in irreversibler Weise nach rechts" (33). Müllers Nachfolger als Reichskanzler Heinrich Brüning verstieß schon im Sommer 1930 "flagrant" gegen den Geist der Weimarer Verfassung (35).
In einer Abkehr von der lange dominierenden Suche nach den Gründen für das Scheitern der Weimarer Republik erkennt Wirsching dann auch in seinem Nachtrag aus dem Jahr 2008 die wesentliche Weiterentwicklung und Veränderung der Perspektiven in der wissenschaftlichen Diskussion: "Vielfältige Forschungen haben die dynamische Offenheit und Polyvalenz der Weimarer Kultur, Politik und Gesellschaft betont und die uneindeutige Reichhaltigkeit des intellektuellen Diskurses hervorgehoben" (120). Als Gegenstand historischer und vergleichender Demokratieforschung wird die politische Geschichte der ersten deutschen Demokratie auch weiterhin eine Rolle spielen. Inwieweit dagegen die von Wirsching erörterten Ergebnisse neuerer kulturgeschichtlicher Arbeiten etwa zu subjektiven Raum- und Zeiterfahrungen, den Medien, dem Körper oder der Visualisierung zu einem vertieften Verständnis dieser Epoche deutscher und europäischer Geschichte beizutragen vermögen, werden künftige umfassende Synthesen zu erweisen haben. Wirschings Forschungsbericht bietet jedenfalls eine solide Grundlage zur Vergegenwärtigung des Erreichten.
Rainer Behring