Tore Iversen: Knechtschaft im mittelalterlichen Norwegen (= Abhandlungen zur rechtwissenschaftlichen Grundlagenforschung; Bd. 94), Ebelsbach/M.: Aktiv Druck 2004, 520 S., ISBN 978-3-932653-19-3, EUR 118,00
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Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis langjähriger Forschungen von 1980 bis 1997, durch die die moderne norwegische Historiographie sowohl Anschluss an die internationale Revision der Erforschung der Sklaverei seit den 1960er Jahren gewinnt, als auch in der europäischen Betrachtung der mittelalterliche Unfreiheit eigene Akzente setzt. Dies gelingt dem Autor, weil er vor allem (aber nicht ausschließlich) im rechtlichen Untersuchungsbereich unter Heranziehung der frühmittelalterlichen Leges und der hochmittelalterlichen Kanonistik komparatistisch vorgeht. Darüber hinaus zählt es zu den Stärken des Autors, transdisziplinäre Forschungsergebnisse gewinnbringend auf seinen Gegenstand anzuwenden, von denen hier die Archäologie, Siedlungsnamenforschung, die Forschungen zur Grundherrschaft, soziologische und sozialpsychologische Deutungsschemata herausgegriffen seien. Er ist sich der ideologischen Voreinstellungen zu seinem Thema sehr bewusst, denn in einem vorangestellten Theoriekapitel beschäftigt er sich auf breiter Basis mit marxistischen sowie sonstigen politischen und religiös verankerten Sichtweisen auf neuzeitliche und antike Gesellschaften, die Sklaven hielten.
Auf der Basis eines so definierten relativen Eigentumsbegriffs (59), verstanden als Verknüpfung vielfältiger Rechte, und der Ablehnung einer spezifischen Sklavenökonomie, die an die Agrarwirtschaft in Form von großen Plantagen, Domänen und Gutsherrschaften gebunden gewesen sei, widmet er sich in den folgenden Kapiteln sehr eingehend den Erscheinungsformen des norwegischen trelldom (Knechtschaft) im Mittelalter, wobei er sich die Breite und Vielfalt der herangezogenen Quellen sicherlich zu Recht zugute hält. Die Basis bildet dabei die vergleichende Analyse der Landschaftsrechte, deren zeitliche Schichtungen hier zwar nicht außer Acht gelassen, aber zugunsten einer vollständigen systematischen Auswertung hintangestellt werden.
Der Befund deckt sich im Wesentlichen mit den Erscheinungsformen von Unfreiheit in europäischen Rechten des Frühmittelalters. Knechte und Mägde wurden gesetzlich in der Regel dem Sachenrecht zugeordnet und damit anderem mobilen Besitz wie beispielsweise Vieh gleichgestellt. Die Gleichstellung von Unfreien und Unmündigen vor Gericht ist ein interessanter Nebenaspekt, der jedoch nicht gleichmäßig weiterverfolgt wird. Aus der Tatsache, dass die Knechtschaft in einigen Rechtsquellen nicht erwähnt wird, kann man wohl kaum schließen, dass es sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gegeben habe, sondern nur, dass sie nicht mehr als Teil der Gesellschaft betrachtet wurde, für die die rechtlichen Regelungen niedergelegt wurden. Eine solche Deutung ergibt sich konsequenterweise auch aus der vom Autor zu Recht abgelehnten Gemeinfreientheorie. Die Rekrutierung der Sklaven aus den Kriegszügen der Wikinger durch Verknechtung von Gefangenen und die Teilnahme am Sklavenhandel gewichtet der Autor neu, da im 9. und 10. Jahrhundert keine Steigerung im Umfang des Sklavenimports feststellbar sei. Daraus sowie aus den Landschaftsrechten und aus dem Alter von Hofnamen, die sich auf die Bewirtschaftung des Hofs durch Unfreie zurückführen lassen, sei zu schließen, dass es schon vor dem Zeitalter der Wikinger eine von der norwegischen Gesellschaft selbst produzierte Knechtschaft gegeben habe.
Ein wesentlicher Faktor für die Notwendigkeit der Sklavenhaltung sei die Bewältigung der schweren Arbeiten in der Landwirtschaft gewesen, die mittels Zwangs- und Herrengewalt sichergestellt wurden. Im Gegensatz zu gegenwärtigen Grundherrschaftsforschung macht der Autor dabei keinen Unterschied zwischen den hofhörigen Sklaven und den Knechten, die im Auftrag des Grundherrn selbständig einen Hof bewirtschafteten. In den letzteren werden jedoch gewöhnlicherweise keine Sklaven mehr gesehen, da sich durch die eigenverantwortliche Halterschaft einer Bauernstelle eine bessere Rechtsstellung und eine Lockerung der Herrengewalt entwickelt habe, so dass die kontinentale Geschichtsforschung spätestens ab dem 9. Jahrhundert lieber die Bezeichnung Unfreie oder Halbfreie statt Sklaven für solche Bauern verwendet.
Von der modernen Grundherrschaftsforschung rezipiert der Verfasser lediglich ein Überblickswerk von Werner Rösener. Das von Adriaan Verhulst beschriebene bipartite System ist ihm unbekannt, doch kann er die Aussonderung unfreier Bauernstellen aus einer größeren, von einem Freien geführten landwirtschaftlichen Produktionsstätte auch für Norwegen nachweisen. Der Aufstieg von Unfreien in besondere Vertrauensstellungen durch Dienst, Schutzleistungen und Kriegstaten oder durch besondere Leistungen in der Hof- und Hausverwaltung führte auch in Norwegen zu einer Veränderung ihres Rechtsstatus. Dies wird am Beispiel der königlichen unfreien Vögte, deren Tätigkeit und Status an die salischen und staufischen Ministerialen erinnert, eindrücklich dargelegt. Der ambivalenten Rolle der Kirche sowohl bei der Freilassung von Sklaven als auch bei der Aufrechterhaltung der Unfreiheit in der nordischen Gesellschaft ist ein ganzes Kapitel gewidmet.
Abschließend erörtert der Autor die verschiedenen Wege, die zur Aufhebung der Unfreiheit führten. Ein ökonomischer Faktor war die vermehrte Rodungstätigkeit mithilfe von Freigelassenen, die als Pachtbauern angesiedelt wurden. Die Rechtssatzungen unterstützten die Befreiung der Sklaven, da der Übergang von der Knechtschaft über die Freilassung zur Freiheit nur eine Generation dauerte. Die Kinder von Freigelassenen waren frei und erbberechtigt. Mindestens ebenso wichtig war jedoch das Erstarken des Königtums, das die Erhebung staatlicher Abgaben nur auf Freie umlegen konnte und sich somit politisch für die Vergrößerung der freien Bevölkerung einsetzte. Insgesamt gesehen gibt das vorliegende Werk einen lesenswerten Überblick über eine Seite der gesellschaftlichen Entwicklung Norwegens bis rund 1300 und teilweise bis ins 14. Jahrhundert hinein. Wenn aus der kontinentalen Forschungstradition heraus das eine oder andere grundsätzliche Ergebnis zur Unfreiheit nicht mehr ganz so neu erscheint, liegt dies an dem späten Erscheinen des Buchs. Es kommt jedoch gerade zu recht, um bei dem aktuell wieder erwachten Interesse, manifestiert unter anderem durch ein Graduiertenkolleg (Trier), eine Rolle zu spielen.
Brigitte Kasten