Fredrika H. Jacobs: The Living Image in Renaissance Art, Cambridge: Cambridge University Press 2005, xiv + 267 S., 8 plates, 62 ill., ISBN 978-0-521-82159-9, GBP 55,00
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Die jüngsten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu Lebensvorgängen auf der Ebene der DNA haben auch in den Künsten eine neue Auseinandersetzung mit Fragen des 'Lebens' provoziert. In dieser Verbindung lässt sich leicht eine Parallele zur Renaissance erkennen, wo ebenfalls neue Einsichten in die Natur eng mit neuen Kunstformen einher gingen - freilich gesteht man Renaissance-Künstlern wie Leonardo da Vinci einen wesentlichen Beitrag zu den wissenschaftlichen Entdeckungen und Visualisierungen zu, heutige Künstler dagegen (so scheint es) können die aktuellen Innovationen höchstens kritisch reflektieren und adaptieren. Jedenfalls überrascht kaum, dass sich auch die Disziplin Kunstgeschichte seit einiger Zeit intensiv der Kategorie 'Lebendigkeit' zuwendet. Gerade auch zur Kunst der Frühen Neuzeit sind in den letzten Jahren eine Reihe wichtiger Untersuchungen erschienen [1], aber erst Fredrika H. Jacobs unternimmt nun den Versuch einer ersten Synthese für das Italien des späten 15. und 16. Jahrhunderts.
Die sieben Kapitel ihres Buches bieten dabei keine durchlaufende, chronologisch geordnete 'Geschichte', sondern entwickeln anhand eingehender Beispielanalysen immer komplexer verschränkte Fragenhorizonte. Die Grundstruktur lässt sich aber wohl doch so zusammenfassen: Nach einer Einführung in die Problemstellung fokussiert Kapitel 2 vor allem die kunsttheoretische und damit zunächst sprachvermittelte Kategorie der vivezza, wie sie - aus antiken Texten und Topoi aufgegriffen - prominent etwa Vasari in seinen Viten benutzt. In Kapitel 3 wird 'Lebendigkeit' auf einer ersten Stufe der künstlerischen Umsetzung als möglichst präzise Naturnachahmung verstanden. Im Zentrum des Interesses steht daher die Entwicklung anatomischer Studien, exemplarisch untersucht werden Leonardo, Michelangelo und das Thema des gehäuteten Marsyas. Kapitel 4 verlässt diese Ebene möglichst exakter Mimesis des Körperlich-Dinglichen, um Theorien, Vorstellungen und Darstellungsmöglichkeiten von Seele und 'Lebensgeistern' (anima und spiritus) zu erkunden. Es folgt ein Abschnitt zur Selbsterkenntnis des Renaissance-Menschen, der sich des eigenen Wesens und 'Lebens' vor allem auch im Blick auf das radikal 'Andere' von Monstern und Missgeburten verdeutlichen konnte. In Kapitel 6 werden dann die Konzepte des Lebendigen ergänzend und kontrastierend um die von Tod und Wiedergeburt erweitert. Ein kurzer Ausblick schlägt abschließend den Bogen zur Gegenwartskunst. Allein dieser kursorische Durchgang lässt intellektuelle Spannweite, Ideenreichtum und Verdienst von Jacobs' Arbeit erahnen.
An Einzelheiten sei nur eine herausgegriffen: Abbildung 33 zeigt angeblich "Pier Jacopo Alari-Buonacolsi, called Antico, Small Bronze Demonstration Model, Städtische Galerie-Liebieghaus, Frankfurt/Main" eine in mehrere Einzelteile zerschnittene Venus, mit der Jacobs verdeutlichen will, dass dem anatomischen 'Zergliedern' der Renaissance ein analoges, restituierend-kreatives 'Zusammensetzen von Einzelteilen' nach dem Vorbild und Selektionsverfahren des antiken Malers Zeuxis gegenüberstand. [2] Nun handelt es sich in Wirklichkeit bei dieser 'zerschnittenen Venus' um ein 1985 anlässlich der Frankfurter Ausstellung Natur und Antike in der Renaissance gefertigtes didaktisches Modell, das die gusstechnischen Stufen und Zustände illustriert. Auf dieser Stufe der reproduzierenden Umsetzung des endgültigen Modells dürfte es aber praktisch ausgeschlossen gewesen sein (zumindest solange kein gesichertes Gegenbeispiel bekannt ist), dass nochmals grundlegende kreative Entscheidungen getroffen und etwa Arme oder Beine in ihrer Haltung verändert oder gar ausgetauscht wurden. Kurz: Die 'zerschnittene Venus' stammt weder aus der Renaissance, noch kann sie übertragen den gewünschten Sachverhalt illustrieren.
Ein viel wichtigerer Punkt scheint mir freilich, dass der argumentative Zusammenhalt in Jacobs' Buch nicht allein durch die oben skizzierte Logik, sondern auch durch Vasaris Viten gegeben ist, die immer wieder entscheidende Stichworte liefern und zugleich analysiert werden. Dabei stellt sich die Frage, ob Jacobs trotz ihrer Verweise auf die 'mythischen Elemente' Vasaris ihrerseits nicht immer noch fundamental eben diesem Mythos Vasari verhaftet bleibt - und zwar auf mehreren Ebenen.
Grundannahme des Buches ist, dass sich in der italienischen Kunst des späten 15. und 16. Jahrhunderts ein neues, besonders intensives Interesse an der vivezza des Bildwerks manifestiere. Als einleitendes Beispiel dafür dient etwa der Sacro Monte von Varallo, der 1486 als Gruppe von (leeren) Kapellen in abbildhafter Anordnung der Topographie Jerusalems konzipiert worden war, ab ca. 1513 dann mit täuschend lebensechten Figuren und Bildern ausgestattet wurde. Nun gab es freilich nicht nur bemalte Kruzifixe mit echtem Haar und Lendenschurz auch schon lange vorher; und in S. Agostino zu Fabriano wurde etwa bereits 1395 eine 'Jerusalem-Topographie' an den Altären eines Oratoriums ebenfalls mit annähernd lebensgroßen, bemalten Holzfiguren eingerichtet. [3] Dabei sollen diese Hinweise nicht 'Vorbilder' beibringen, sondern zur Frage führen, ob die früheren Werke nicht unabhängig von ihrer mimetischen Perfektion genau den gleichen (subjektiven) Effekt mentaler Vergegenwärtigung und 'Verlebendigung' des Heilsgeschehens erzielten wie dann die 'hyperrealistischen' Figuren des Sacro Monte. Oder anders formuliert: Nur weil uns aus dem Rückblick diese 'lebendiger' vorkommen als jene, muss das für die Zeitgenossen der Jahre um 1400 keineswegs zutreffen.
Mehr noch: Gerade im Kult-Kontext erscheinen den Gläubigen oft nicht die künstlerisch interessantesten Werke als besonders 'ansprechend' und 'lebendig', sondern andere Faktoren beeinflussen die Wahrnehmung: Emotionen, Glaube und vor allem auch kultische Praktiken - so etwa, wenn die Bildwerke in diesem Rahmen bewegt werden und also scheinbar selbsttätig 'handeln'. [4] Bei alledem gilt: Für diese 'Verlebendigungen' eines Bildwerks spielt stets der Betrachter und seine Wahrnehmungsdisposition die entscheidende Rolle. Dagegen versucht die Kunsttheorie der Renaissance seit Petrarca im Gegenteil unter dem Schlagwort aria dem Künstler eine Schlüsselrolle in diesem Prozess zuzuschreiben: Der Künstler übertrage auf sein Werk einen Teil seiner 'Lebensenergie' (in Analogie zur Zeugung von Kindern), die der Betrachter dann 'nur noch' wahrzunehmen brauche. Forciert wird also offenbar eine Erklärung mittels Kunst und Künstler, nicht mehr über den 'außerkünstlerischen' Rezipienten. Das führt zur hier nur in größter Zuspitzung anzudeutenden Frage, ob die gesteigerte vivezza der Renaissance-Kunst nicht auch Kompensation und Indikator für einen anderweitigen Verlust an 'selbstverständlicher Lebendigkeit' des Bildwerks in den Augen der Betrachter darstellte: Ist es Zufall, dass die Sacri Monti als eine Art Bollwerke gegen die Reformation und deren Umwertungen u. a. der alten Bildtraditionen errichtet wurden? Kann der Grad an lebensvoller Präsenz der Heilsgeschichte, wie er vor 1500 in den Darstellungen möglicherweise fast 'automatisch' erzielt wurde, nach 1500 nur mehr über maximale Steigerung des medial Möglichen behelfsweise zu erreichen versucht werden?
Die fortdauernde Betonung von Kunst und Künstlern im Sinne Vasaris verhindert auch, dass andere Faktoren der Verlebendigung in dem Maße ins Spiel kommen, wie es ihnen möglicherweise zusteht - neben Glaube und Kult wäre etwa zu denken an magische Praktiken oder an Liebe und andere 'starke' menschliche Passionen in ihrer jeweiligen historischen Codierung (etwa Wut und Rachegelüste angesichts von Schandbildern). Entsprechend wird mit Vasari die zentrale Bedeutung anatomischer Studien - einer weiteren ars - herausgestellt: Schriftzeugnisse hierzu werden prominent teils mehrfach zitiert (obwohl ihr Leserkreis einigermaßen beschränkt gewesen sein dürfte). Dagegen scheint etwa die von Petrarca ausgehende, schier unendliche poetische Flut auf 'verlebendigte' Liebes-Porträts marginalisiert.
Schließlich scheint auch die Auswahl von Künstlern und Kunstschriftstellern bei Jacobs letztlich noch Vasaris Präferenzen für die römisch-toskanische Schule zu spiegeln: So darf Tizian zwar einige Male auftreten, Moretto und Moroni werden je einmal erwähnt, Giorgione oder Lotto dagegen nie.
Unbenommen bleibt, dass Leonardos Porträt-Kunst und sfumato bei der Mona Lisa im Rückblick ein spektakulär neues Darstellungsniveau für lebensvolle Bildnisse erreichte. In Frage gestellt sei aber wiederum, ob dies (im Sinne Vasaris) rechtfertigt, die ästhetische Kategorie vivezza in den Jahrhunderten zuvor als weniger entwickelt einzuschätzen? Die Funde antiker terra sigillata in Arezzo, wie sie Ristoro d'Arezzo im späten 13. Jahrhundert schilderte, oder aber die Ankunft der berühmten Badestube Jan van Eycks mit ihren schwitzenden weiblichen Akten im Ferrara des mittleren 15. Jahrhunderts riefen offenbar enthusiastische Bewunderung für die scheinbar lebendigen Bildwerke hervor. Weil uns im Vergleich dazu die 'Lebendigkeit' der Cinquecento-Kunst so viel eingängiger und unmittelbar ansprechender erscheint (und so auch von Vasari erläutert wird), gerade deshalb gilt es deren und unsere aktuellen Mythen vom Leben besonders kritisch zu reflektieren. Jacobs neues Buch bietet dafür eine hervorragende Ausgangsbasis.
Anmerkungen:
[1] Zusammenfassend das Lemma 'Lebendigkeit' von F. Fehrenbach, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, hrsg. von U. Pfisterer, Stuttgart/Weimar 2003, 222-227.
[2] Die Autorin beruft sich dafür auf einen Aufsatz von L. Mendelsohn, in dem dieselbe Abbildung mit derselben Unterschrift erscheint, siehe Leatrice Mendelsohn: The sum of the parts. Recycling antiquities in the Maniera workshop of Salviati and his colleagues, in: Francesco Salviati e la bella maniera, hrsg. von C. Monbeig Goguel u. a., Rom 2001, 107-148, hier 137-140, wo unbestimmter von einem "diagram for casting" die Rede ist.
[3] Vgl. I Legni Devoti. Sculture lignee del '300 nel territorio Fabrianese, hrsg. von G. Donnini, Fabriano 1994. Auch die hyperrealistischen Bildwerke der Sacri Monti wurden durch 'externe Aktivierungen', etwa Predigten, unterstützt, vgl. A. Nova: 'Popular' Art in Renaissance Italy: Early Response to the Holy Mountain at Varallo, in: Reframing the Renaissance, hrsg. von C. Farago, New Haven/London 1995, 113-126.
[4] J. Tripps: Das handelnde Bildwerk in der Gotik: Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik, Berlin 2000.
Ulrich Pfister