Rezension über:

Uwe Ziegler: Das Insolvenzverfahren um Stift Riechenberg 1773 bis 1798. Konkurs der Toten Hand? (= Beiträge zur Geschichte der Stadt Goslar; Bd. 54), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2006, 191 S., ISBN 978-3-89534-624-8, EUR 19,00
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Rezension von:
Wolfgang Rosen
Landschaftsverband Rheinland, Köln
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Rosen: Rezension von: Uwe Ziegler: Das Insolvenzverfahren um Stift Riechenberg 1773 bis 1798. Konkurs der Toten Hand?, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/12372.html


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Uwe Ziegler: Das Insolvenzverfahren um Stift Riechenberg 1773 bis 1798

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Der Titel dieses Buches weckt Interesse, geht es doch um den seltenen, ja außerordentlichen Fall, dass ein geistliches Institut in ein Insolvenzverfahren geriet. Dass es sich hier um die Darstellung eines Falls mit übergeordneten Fragestellungen handelt, zeigt der Untertitel "Konkurs der Toten Hand?". Konnte ein Stift, dessen Gelder prinzipiell zeitlich unbegrenzt fundiert waren, aufgelöst werden? Wie konnte es zu einer solchen Entwicklung kommen und wie gingen die Beteiligten damit um?

Diesen Fragen geht Uwe Ziegler in seiner Studie nach, die auf einer an der Universität Göttingen entstandenen Magisterarbeit basiert. Untersucht wird der Fall des zur Windesheimer Kongregation gehörenden Augustinerchorherrenstiftes Riechenberg bei Goslar, das 1772 ökonomisch kollabierte. Warum geriet das Stift in Konkurs und welche Lösungsmöglichkeiten boten sich an?

Von 1762 bis 1772 betrieb Stiftspropst Wilhelm de la Tour mit Krediten eine ehrgeizige bauliche und agrarische Expansion. Solche Aktivitäten waren in dieser Zeit durchaus nicht unüblich, allein Ausmaß und Geschwindigkeit waren zu hoch, als dass das Stift dieses hätte verkraften können. Die Ursache der Insolvenz war ein überhasteter und missglückter ökonomischer Ausbau, dessen Kosten sich ebenso wie massive Bauinvestitionen nur durch einen steigenden Zufluss von Fremdkapital finanzieren ließen. Es wäre indessen als Erklärung unzureichend - so unterstreicht Ziegler zu Recht -, dem Propst Verschwendungssucht und Geltungsdrang als alleinige Motive zu unterstellen.

Der Autor untersucht auch die Gläubigerseite: Handelte es sich um Masse-, Hypotheken- oder Leibrentengläubiger, woher stammten sie? Zudem wird die Struktur der Kredite beleuchtet, indem die Sicherheiten und die Zinssätze analysiert werden. Hier ist interessant, dass es v. a. die Jesuitenkollegien aus Köln und Osnabrück waren, die angesichts der drohenden Auflösung ihr Vermögen noch in Sicherheit bringen wollten.

Das Verhältnis des Stiftes zu seinen Kreditoren war asymmetrisch: Riechenberg hatte gegenüber den Kreditgebern wie Handwerkern oder Lieferanten eine stärkere Position inne, die sich gegen eine Umwandlung ausstehender Rechnungen und Lohnzahlungen in Kredite kaum wehren konnten. So war es signifikant, dass man kaum auf professionelle Geldverleiher zurückgriff.

Auslöser - nicht Ursache - für den Zusammenbruch des Schuldenimperiums war die Agrarkrise der 1770er-Jahre als der Ordensgeneral gezwungen war, den widerstrebenden Propst im Dezember 1772 aus Riechenberg zu entfernen. Um die Ausgaben zu reduzieren, versetzte man etwa die Hälfte der Chorherren in andere Stifte. Im Dezember 1773 ließ der Hildesheimer Fürstbischof den Konkursprozess durch das Regierungskollegium eröffnen, wobei Ziegler bei der Darstellung des Prozessverlaufes v. a. rechtsgeschichtliche - weniger, so mag man bedauern, ökonomische - Aspekte in den Vordergrund stellt.

Eine sich über das Verfahren durchziehende Frage war, ob die Schulden als Privatverbindlichkeiten des Propstes angesehen werden konnten, oder ob es Schulden der Korporation waren.

Während die Kreditoren die möglichst schnelle Befriedigung ihrer Forderungen erwarteten, wünschte die geistliche Administration, den Konvent auch während des Prozesses zu erhalten, da es des Bischofs oberstes Anliegen war, die Skandalwirkung des Konkurses zu begrenzen. Überdies hielt man das insolvente Stift als seelsorgerisches und schulisches Zentrum in der Diaspora für unverzichtbar und somit waren es also in erster Linie übergeordnete und von der Staatsräson diktierte Interessen, von denen sich das Gericht leiten ließ. Eine Aufhebungs-Option war zwar im Regierungskollegium als Minderheitenposition diskutiert worden, ohne dass einer der Gläubiger ernsthaft gefordert hätte, die Stiftungsfundation zur Schuldentilgung anzutasten. Im Zuge der Sanierung standen die Verpachtung der Liegenschaften und die Veräußerung von Einrichtungsgegenständen im Vordergrund. Darüber hinaus sorgte man dafür, dass weiterhin ein Rumpfkonvent existieren konnte, um nicht nur Gottes- und Schuldienst, sondern auch das Chorgebet aufrechtzuerhalten.

Nachdem die zwischen 1773 und 1777 aus Veräußerungen und Pachteinnahmen angesammelten Gelder ausgeschüttet waren, kam die Tilgung der Verbindlichkeiten in den folgenden zwei Jahrzehnten kaum voran. Zu gering waren die Erträge im Verhältnis zu den Kosten, die die gerichtliche Zwangsverwaltung und der Reparaturbedarf an den Gebäuden verursachten. Ein Umschuldungs- und Vergleichsplan, den der Ordensgeneral 1796 vorlegte, führte mit bischöflicher Unterstützung nach 25jähriger Dauer das Ende des Verfahrens herbei.

Bis heute dominieren Deutungen, die auf die Person de la Tours zentriert sind. Es ist allerdings unklar - dies betont der Autor zu Recht -, wie sich die im Falle Riechenbergs betriebene Darlehensakquise in den Kontext des nur bruchstückhaft und für wenige Regionen erforschten Kreditwesens seiner Zeit einfügt. Die Schlüsselrolle, die Angehörige und Freunde des Propstes bei der Vermittlung von Kontakten zu Anlagewilligen spielten, lässt sich durchaus als Folge seiner Verschleierungsabsichten deuten. Nicht weniger plausibel erscheint indessen die Annahme, dass die Lage Riechenbergs in einem agrarisch geprägten Umfeld den praktizierten Modus der Fremdmittelbeschaffung erforderte, um abseits der Handelsplätze auf Kredite zugreifen zu können.

Ein Vergleich zumindest mit anderen hildesheimischen Stiften und Klöstern wäre - darauf weist Ziegler zu Recht hin - hilfreich, um besser einschätzen zu können, in welchem Maße das unternehmerische Handeln des Propstes als durchschnittlich, progressiv, risikofreudig oder gar tollkühn einzuschätzen ist. Zudem erschwert ein Mangel an Studien zur gemeinrechtlichen Konkurspraxis die Kontextualisierung dieses ohnehin singulären Verfahrens erheblich. Das Verfahren gewährt zugleich einen Einblick in den Stand der zeitgenössischen Säkularisationsdebatte. Die Befürworter einer Aufhebung des Stiftes - nicht nur Anhänger der aufklärerisch-staatsrechtlichen Publizistik, die Klöster und Stifte als verfallen charakterisierten - sahen sich einer Mehrheit gegenüber, die noch an der Unantastbarkeit der Stiftsfundation festhielten. Das Beispiel der 1777 säkularisierten Hildesheimer Kartause macht indessen deutlich, dass Riechenberg seinen Fortbestand dem praktischen Nutzen verdankte, den der Fürstbischof ihm zumaß. Aus rein ökonomischen Gründen wäre eine Aufhebung in einem früheren Stadium adäquat gewesen, da die Zinslasten und Prozesskosten in einem krassen Missverhältnis zu den laufenden Einnahmen standen.

Die Arbeit ist klar gegliedert und orientiert sich an der Chronologie der Ereignisse. Der Autor präsentiert einen Forschungsüberblick, aufgrund dessen er die entscheidenden Fragestellungen herausarbeitet und ein Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Personen- und Ortsregister sowie ein Glossar schließen den Band ab.

Schon allein die Analyse der ökonomischen Struktur eines geistlichen Institutes ist überaus verdienstvoll, stellt dieser Sektor doch noch weitgehend ein Forschungsdesiderat dar. Was die Arbeit von Ziegler darüber hinaus auszeichnet, ist der behandelte Zeitraum: Denn die Geschichte der geistlichen Institute im 18. Jahrhundert darf nicht - wie bislang häufig geschehen - nur als eine Vorgeschichte der Säkularisation gedeutet werden. Lange Zeit hat ein solcher Forschungsansatz den Blick auf die tatsächliche Situation und Entwicklung verunklart, denn tatsächlich gab es häufig keinen zwangsläufigen Verfall, was das Beispiel Riechenberg deutlich zeigt: Denn hier kam es aufgrund einer ganz bestimmten Kombination aus Managementfehlern des Propstes, einer Fehleinschätzung der Ordensleitung sowie einem - aus Gründen der Staatsräson verständlichen, aber der Sache nicht angemessenen - Verhalten des Territorialherrn zu einer existenziellen ökonomischen Krise. Der Autor zeigt den Weg dieser Entwicklung nach und analysiert differenziert die entscheidenden Faktoren, was verständlich werden lässt, warum das Stift in eine solch prekäre Situation geraten konnte. Es wird deutlich, dass eine solche Krise eben nicht das Symptom eines allgemeinen Verfalls des klösterlich-stiftischen Lebens im 18. Jahrhundert, sondern das Ergebnis einer sehr spezifischen Entwicklung war. Der Fall Riechenberg ist sicher ein extremer Fall, doch müsste - und dabei ist dem Autor wohl zuzustimmen - noch eine ganze Reihe anderer Klöster und Stifte in dieser Weise untersucht werden, um krisenhafte Entwicklungen dieser Institute zu analysieren.

Es ist wenig zu monieren: Vor allem zur Verdeutlichung und besseren Analyse der ökonomischen Größenordnungen und -entwicklungen wären Grafiken sehr hilfreich gewesen. Ebenso hätte man Karten der Lage der Besitzungen wie auch der Herkunftsorte der Kreditoren als nützlich empfunden. Instruktiv ist die Tabelle (67-75) der Kapitalforderungen nach Klassen, Angabe der Kreditoren, Daten, Höhe der Kredite und deren Zinssätze: Allerdings hätte man auch hier die Daten in eine Grafik überführen können, um die quantitativen Aspekte besser aufzuzeigen.

Wolfgang Rosen