Rezension über:

Jutta Person: Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavismustheorien und Kulturkritik 1870-1930 (= Studien zur Kulturpoetik; Bd. 6), Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, 281 S., 11 Abb., ISBN 978-3-8260-3135-9, EUR 39,80
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Rezension von:
Daniela Bohde
Kunstgeschichtliches Institut, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Daniela Bohde: Rezension von: Jutta Person: Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavismustheorien und Kulturkritik 1870-1930, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/12614.html


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Jutta Person: Der pathographische Blick

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Jutta Persons "Der pathographische Blick" bietet eine profunde und anregende Diskussion von physiognomischen und atavistischen Theorien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Persons Arbeit ist eine literaturwissenschaftliche Dissertation, doch nimmt sie eine kulturwissenschaftliche und interdisziplinäre Perspektive ein, so dass die Lektüre für Angehörige aller geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächer gewinnbringend ist.

Mit ihrem diskursanalytischen Ansatz in Nachfolge Michel Foucaults zeigt Person die Wechselwirkungen zwischen Medizin, Psychiatrie, Kriminologie, Kulturkritik und Literatur auf. Der literaturwissenschaftliche Ausgangspunkt bestimmt die Auswahl der drei hauptsächlich untersuchten Autoren: Cesare Lombroso, Max Nordau und Ernst Kretschmer. Diese drei suchten nicht nur bei den Menschen ihrer Umwelt nach Kriterien für krankhaftes, deviantes Verhalten, sondern nahmen mit ihrer pathographischen Perspektive auch die Literatur ins Visier. Grundlage von Persons Buch ist die Annahme, dass "rhetorische Modelle die Geschichte des Wissens mitstrukturieren und umgekehrt neue Wissenstechniken in der Literatur reflektiert und generiert werden" (13). Diese Wechselwirkungen zwischen Literatur und Wissenschaften verfolgt sie vor allem am Topos vom "Tier im Menschen".

Persons Buch ist in drei Hauptkapitel zu Lombroso, Nordau und Kretschmer gegliedert, denen ein Kapitel zum Begründer der modernen Physiognomie, Johann Caspar Lavater, vorausgeht und ein kurzes Schlusskapitel folgt.

Lavater wird in der neueren Forschung vor allem als Aufklärer und Begründer einer modernen visuellen Hermeneutik diskutiert. [1] Lavaters Physiognomik verlor zwar schon im 19. Jahrhundert ihr Renommee, doch wurde die physiognomische Grundüberzeugung, dass das Äußere ein Schlüssel für das unsichtbare Innere biete, genauso von der Physiologie, Psychiatrie oder Kriminologie tradiert wie von der Kulturkritik oder den Geisteswissenschaften. Als Grund für den physiognomischen Boom zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird zumeist die Modernisierungskrise ab 1900 genannt: Den Verlust traditioneller Sinnbezüge schien eine auf kulturelle Phänomene ausgeweitete Physiognomik kompensieren zu können, die aus den Oberflächenphänomenen der modernen Gesellschaft auf ihren dahinter liegenden verborgenen Charakter schloss. [2]

In Persons Fokus liegt vor allem die Verbindung der Physiognomie-Renaissance der Weimarer Republik mit der Pathographie des 19. Jahrhunderts. Dabei gilt ihr besonderes Augenmerk den Mensch-Tier-Vergleichen, einem klassischen Element aller physiognomischen Ansätze, das sich jedoch durch die Evolutionstheorie grundlegend verändert. Durch Darwins Theorie ist der Abstand zwischen Mensch und Tier bedrohlich klein geworden. Die pathographischen Modelle Lombrosos und Nordaus reagieren darauf, indem sie menschliche Normalität als Distanz zum Tierischen definieren, in deviantem Verhalten aber Rudimente des Tierischen im Menschen erkennen.

Cesare Lombroso versucht 1876 in "Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung" eine biologische Erklärung von kriminellem Verhalten zu geben. Sein theoretisches Modell ist die Atavismuslehre, nach der die "geborenen Verbrecher" nicht die normale menschliche Entwicklung mitgemacht haben, sondern auf eine prähistorische Stufe des Menschseins oder gar eine Tierstufe zurückgefallen sind. Für Lombroso ist Tierhaftes in menschlichen Physiognomien deshalb keine bloße Metapher, sondern ein realer Rest von ursprünglicher Animalität und damit Amoralität. Denn seine Atavismustheorie ist mit einem negativen Naturverständnis verbunden. In Kindern, Wilden, Irren und Verbrechern sieht er gefährliche Elemente einer bösen Natur.

Person verfolgt die These, dass Lombroso seine Typologie des Devianten weniger aus den berühmten Schädelmessungen gewinnt, sondern aus den Topoi der Biografik. Denn in seinem ersten Hauptwerk "Genie und Wahnsinn" von 1864 wertet er vor allem biografische Quellen über berühmte Männer aus. Seine so gewonnenen Erkenntnisse stützt er also eher im Nachhinein durch seine empirische Messmethode ab.

Der pathographische Blick auf Intellektuelle und Schriftsteller radikalisiert sich bei Lombrosos Nachfolger Max Nordau. Der Arzt und Kulturkritiker gibt in seiner zweibändigen Schrift "Entartung" von 1892/93 Lombrosos ambivalente Haltung gegenüber dem Genie auf. War für Lombroso das Genie zwar degeneriert, aber dadurch auch auf besondere Art begabt, ist für Nordau der (moderne) Künstler eine biologische Gefahr für die Gesellschaft. Nordau erkennt das Tierhafte und Degenerierte nicht mehr wie Lombroso an äußeren Merkmalen, sondern nun an der ihrerseits degenerierten Nervenzelle. In seiner Kulturkritik erhebt er diesen neurologisch-psychiatrischen Blick zum allein maßgeblichen. Intellektuelle Gegner wie Friedrich Nietzsche, der ein konkurrierendes Modell vom Tier im Menschen entwickelt, werden von ihm pathologisiert. Nordaus Ziel ist deren - biologisch verstandene - Ansteckungsmacht einzudämmen.

Die Verinnerlichung des physiognomischen Blickes verstärkt sich in der Konstitutionslehre des Psychiaters Ernst Kretschmer. In seinem bis in die 1960er-Jahre aufgelegten Buch "Körperbau und Charakter" von 1921 teilt er die Menschen in hauptsächlich zwei Konstitutionstypen ein, den heiteren Dicken und den nervösen Dürren, und führt dies auf die Blutdrüsen zurück. De facto aber bleibt das physiognomische Schema erhalten, aus dem Äußeren auf den Charakter zu schließen. Denn mit den beiden Körperbautypen ist die Veranlagung zur entweder manisch-depressiven oder zur schizophrenen Erkrankung gegeben. Dieses Analyseraster wendet er auch auf die Literatur und die bildende Kunst an. Die Blutdrüsen bestimmen also letztlich, ob ein realistischer oder expressiver Stil gewählt wird.

An Kretschmers Typologie kann Person gut die psychiatrische Professionalisierung des physiognomischen Blickes aufzeigen, die eine intuitive Charakterologie mit einer akribischen Vermessung des Körpers verbindet und sich - wie bei Nordau - eine Erklärungskompetenz auch für die Ästhetik zumisst. Doch lässt sich bei Kretschmer nicht sagen, dass für ihn Tiervergleiche eine besondere Relevanz haben, wovon Person ausgeht (12, 220, 222), um ihn in ihr Analyseschema einzufügen. Genauso scheint die These, dass auch Kretschmer ein "literaturgeschichtliche[s] Raster" "als heimliche Grundlage seiner Konstitutionslehre entwickelt" (188), weniger überzeugend. Dass Kretschmers Typologie auf kulturellen Stereotypen basiert, steht außer Frage, dass er sie aber aus der Literatur gewinnt, kann Person nicht nachweisen. Im Gegenteil wäre interessant, die visuelle Komponente seiner Physiognomik weiterzuverfolgen.

Wenn also Persons Leitthesen nicht auf jeden ihrer Protagonisten im gleichen Maße anzuwenden sind, so erschließen sie einen wichtigen Komplex, der nicht nur für die Psychiatrie-, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte von großer Bedeutung ist, sondern auch für die Kunstgeschichte und verwandte Fächer, da das physiognomisch-pathographische Denken die Methodik vieler Geisteswissenschaften geprägt hat. [3] Dass diese Modelle auch die heutigen Diskussionen bestimmen, wird einem in Persons Kapitel zu Lombrosos Vorstellung vom geborenen Verbrecher deutlich. Sie scheint in der aktuellen, von Hirnforschern ausgelösten Diskussion um den freien Willen ihre Urstände zu feiern.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Richard Gray: Die Geburt des Genies aus dem Geiste der Aufklärung. Semiotik und Aufklärungsideologie in der Physiognomik Johann Kaspar Lavaters, in: Poetica - Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 23 (1991), 95-138; Andreas Käuser: Die Physiognomik des 18. Jahrhunderts als Ursprung der modernen Geisteswissenschaft, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 41 (1991), 129-144.

[2] Vgl. Helmut Lethen: Neusachliche Physiognomik - Gegen den Schrecken der ungewissen Zeichen, in: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 49 (1997), 6-19.

[3] Vgl. zu Sedlmayrs Rückgriff auf die Physiognomik Frederic J. Schwartz: Blind Spots - Critical Theory and the History of Art in Twentieth-Century Germany, New Haven et. al., 2005.

Daniela Bohde