Rezension über:

Frederic J. Schwartz: Blind spots. Critical theory and the history of art in twentieth-century Germany, New Haven / London: Yale University Press 2005, XIII + 300 S., ISBN 978-0-300-10829-3, GBP 30,00
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Rezension von:
Daniela Bohde
Kunstgeschichtliches Institut, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Daniela Bohde: Rezension von: Frederic J. Schwartz: Blind spots. Critical theory and the history of art in twentieth-century Germany, New Haven / London: Yale University Press 2005, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/15739.html


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Frederic J. Schwartz: Blind spots

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Frederick Schwartz' Buch enthält viel mehr als sein Titel verspricht. Es untersucht nicht nur das Verhältnis zwischen der Frankfurter Schule und der Kunstgeschichte, sondern es ist ein überaus origineller und intelligenter Beitrag zur Entwicklung kunsthistorischer Methoden, Denkfiguren und Kategorien. Sein zentrales Thema ist die Auseinandersetzung mit der Moderne. Hier scheinen die marxistisch geschulten Forscher der Frankfurter Schule im Vorteil gewesen zu sein, da sie eigene Kriterien entwickelten, um Kulturindustrie und kapitalistische Warenwirtschaft zu analysieren, während die der Vergangenheit zugewandten Kunsthistoriker sich meist nur schwer mit der Moderne abfinden konnten. Die Vertreter der Frankfurter Schule griffen trotzdem auf kunsthistorische Erklärungsmodelle zurück, denn sie versuchten der Moderne vor allem im Feld des Visuellen habhaft zu werden. So ist für Schwartz die Visualität der Moderne ein Bereich, in dem sich die beiden Disziplinen, aber auch politisch Linke wie Rechte begegneten und verfehlten.

Die Themenfelder, denen sich der am Londoner University College lehrende Schwartz widmet, sind die "blind spots", die dem Buch den Titel geben. Er hat nicht die zentralen und aktuell gebliebenen Begriffe der beiden Disziplinen ausgewählt, sondern in Anlehnung an Adorno blinde Flecken und verworfene Dinge: "Stil und Mode", "Zerstreuung und der Fachmann", "Ungleichzeitigkeit", "Physiognomik und Mimesis". In diesen Kapitel-Themen deuten sich schon ungewöhnliche Kontexte und Paarungen an, die in Schwartz' Buch zu einer Fülle neuer Perspektiven auf vermeintlich bekannte Probleme führen.

In seinem 1. Kapitel gelingt es Schwartz, Heinrich Wölfflins Stilbegriff in einen überaus erhellenden Kontext zu setzen: die Mode. Die Mode identifiziert er als den blinden Fleck der kunsthistorischen Debatte um den Stil. Die im Laufe des 19. Jahrhunderts manifest werdende Erfahrung, dass Moden in ihrer visuellen Gestalt völlig arbiträr sind und allein dem Absatz von Waren dienen, produzierte - so seine These - das in die Vergangenheit projizierte Gegenbild eines einheitlichen Stils. Dieser sollte Kathedralen wie Schuhe umfassen und verbindlich den Geist von Epoche und Volk ausdrücken. Schwartz begnügt sich nicht mit einer solchen Neuverortung von Wölfflins Stilbegriff, obwohl diese eine wirkliche Bereicherung der zumeist nicht eben aufregenden Wölfflin-Forschung ist. Er verfolgt außerdem, wie Horkheimer und Adorno in ihrer Kritik der Kulturindustrie auf die kunsthistorische Debatte um Stil und Mode aufbauten. Die beiden Denker wendeten, so Schwartz, die Begriffe zwar kritisch, doch entkamen sie ihnen nicht ganz. Sie blieben ein blinder Fleck ihrer Theorie.

In seinem zweiten, der Zerstreuung und dem Fachmann gewidmeten Kapitel situiert Schwartz Benjamin im Umfeld der Avantgarde in Fotografie, Typografie, Design, Psychotechnik und Werbung und spürt hier erneut die blinden Flecken in der Kritischen Theorie auf.

Der dritte Abschnitt geht dem Thema der Ungleichzeitigkeit nach, das Kunsthistorikern von Pinders Modell der "Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen" bekannt ist. Aus kunsthistorischer Perspektive ist überraschend zu sehen, wie intensiv dies gleichzeitig in der marxistischen Theorie diskutiert wurde. Schwartz spinnt ein Netz von Bezugnahmen, Parallelen und Abgrenzungen zwischen Pinder, Bloch, Benjamin, Mannheim, Wölfflin, Simmel und Panofsky. Zu ergänzen wäre dieses Geflecht noch um Oswald Spengler, dessen Modell der überhistorischen Verwandtschaft von Epochen eine wesentliche Vorlage für Pinder war. Beide gleichen sich in ihrer biologistischen Argumentation, die im Namen einer naturwüchsigen Ordnung die Kontingenzerfahrung niederzukämpfen versucht. Richtig spannend wird es, wenn Schwartz diese Debatte mit der Ungleichzeitigkeit der zeitgenössischen Architekturstile verbindet. Darauf aufbauend führt er vor, dass Pinder das Neue Bauen begrüßte, Bloch es aber kritisierte, da er dessen Funktionalismus als Ausdruck des in den Faschismus übergehenden Kapitalismus sah. Pinder stimmte darin mit Bloch überein, plädierte aber deshalb für das Neue Bauen als Ausgangspunkt einer nationalsozialistischen Architektur. [1]

Im vierten und letzten großen Kapitel geht es vor allem um physiognomische Denkfiguren in der Kunstgeschichte und der Kritischen Theorie. Es ist bekannt, dass Kracauer und Benjamin großes Interesse an der Physiognomik hatten. Sie suchten nach einem visuellen Deutungsverfahren, mit dem sich das Gesicht der Moderne verstehen ließ. Wie sehr sie sich hierbei auf das kunsthistorische Modell bezogen, nach dem sich im Stil oder allgemeiner im Visuellen der Geist einer Epoche ausdrückt, war vor Schwartz' Studie weit weniger bekannt. Genauso zeigt Schwartz auf, dass Kunsthistoriker auf die Physiognomik zurückgriffen. Sein Kronzeuge ist Hans Sedlmayr, bei dem er untersucht, wie dieser sich in den 1930er-Jahren von einem Vertreter der Rationalität zu einem Adepten kunstgeschichtlicher Physiognomik entwickelte. Hierzu bemerkt Schwartz hellsichtig: "It could be argued that physiognomy was a late detour, a final dead end to Sedlmayr's project, but I think, in fact, that it was the very beginning. The physiognomic challenge and various responses to it are what Sedlmayr identified as the legacy of the Vienna School". (177) Indem Schwartz am Beispiel Sedlmayrs die Nähe von Kunstgeschichte und Physiognomik aufzeigt, eröffnet er ein wichtiges Thema, das weder in der Forschung zur Physiognomik noch zur Kunstgeschichte ausreichend berücksichtigt wurde. [2]

Schwartz lässt keinen Zweifel, was er von Sedlmayrs physiognomischem Ansatz hält - "quackery" (160) -, doch nimmt er gleichzeitig Sedlmayrs hermeneutische Verunsicherung ernst, die diesen antrieb zu fragen, was ist ein Bild, was ist der Mensch? Schwartz sieht Sedlmayr vor allem als einen Modernisten, der die irritierenden Entfremdungserfahrungen, die die Moderne bereithielt, sensibel registrierte, dann aber in seinen physiognomischen Konstrukten zu bannen versuchte. Schwartz verortet Sedlmayr überzeugend zwischen Phänomenologie, Gestaltpsychologie, Charakterologie und Physiognomik und geht den Spannungen zwischen diesen nur schwer zu vereinbarenden Denkrichtungen nach. Gelegentlich wünscht man sich eine noch detailliertere Arbeit an Sedlmayrs Texten, ihrer Entstehungsgeschichte, den versteckten Zitaten und falschen Fährten, um Sedlmayr in diesem weiten Raum besser zu greifen. [3] Andererseits bewahrt dies Schwartz davor, sich in eine kleinteilige Sedlmayr-Exegese zu verstricken.

Vor allem geht Schwartz der irritierenden Tatsache nach, dass sich Benjamin zum Teil auf die gleichen physiognomischen Autoren bezog wie Sedlmayr. Schwartz entwickelt hier ein enges Netz von unterschiedlichen Intellektuellen - u.a. Ludwig Klages, Helmuth Plessner und dem heute wenig bekannten Heinz Werner -, deren Denken um Physiognomie, Ausdruck und die Relevanz des Körperlichen kreiste. Durch diese Kontextualisierung macht Schwartz die okkulte Seite Benjamins sehr stark, fast hat sie den Nebeneffekt, Sedlmayrs physiognomische Kunstgeschichte zu nobilitieren. Sedlmayr erscheint wie ein "verlorener Bruder" Benjamins. Im Schlusskapitel jedoch - bei einer erneuten, überraschenden Zusammenführung von Benjamin und Sedlmayr - macht Schwartz noch einmal die ethischen und politischen Differenzen zwischen den beiden Denkern deutlich, von denen der eine als Nationalsozialist reüssierte, der andere aber sich 1940 auf der Flucht das Leben nahm.

Was Schwartz mit "blind spots" unternimmt, ist etwas Ähnliches, wie das, was er an Benjamin untersucht: die Ausweitung der kritischen Reflexion in intellektuelles "Feindesland". Mit Neugier und einer seltenen Redlichkeit untersucht er, wie die Intellektuellen der 1920er-, 30er- und 40er-Jahre auf die Herausforderung der Moderne reagierten, und scheut vor dem abseitig oder skurril Erscheinenden genauso wenig zurück wie vor Gedanken, die durch die Biografie ihrer Autoren desavouiert wurden. Das Ergebnis ist eine bereichernde und herausfordernde Studie, die einen dazu zwingt, sich mit den eigenen blinden Flecken auseinanderzusetzen.


Anmerkungen:

[1] Schwartz' Blick auf Pinder ist recht mild, er wäre durch neuere Ergebnisse der Pinder-Forschung zu ergänzen, vgl. Sabine Arend: "Einen neuen Geist einführen...?" Das Fach Kunstgeschichte unter den Ordinarien Albert Erich Brinckmann (1931-1935) und Wilhelm Pinder (1935-1945), in: Die Berliner Universität in der NS-Zeit, 2 Bde., hg. von Rüdiger vom Bruch unter Mitarbeit von Rebecca Schaarschmidt, Stuttgart 2005, Bd. 2: Fachbereiche und Fakultäten, 179-198.

[2] Vgl. u.a. Heiko Christians: Gesicht, Gestalt, Ornament - Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74,1 (2000), 84-110. Die Verbindung Kunstgeschichte - Physiognomik ist nicht auf das frühe 20. Jahrhundert begrenzt, vgl. Martial Guédron: Peaux d'âmes - l'interprétation physiognomonique des œuvres d'art, Paris 2001 sowie meine Habilitationsschrift "Kunstgeschichte als physiognomische Wissenschaft - Eine Denkfigur in der deutschsprachigen kunsthistorischen Literatur zwischen 1920 und 1950" (im Erscheinen).

[3] Vgl. die auf Archivalien gestützten Studien von Hans H. Aurenhammer, die eine genauere Verortung Sedlmayrs ermöglichen, u.a.: Hans Sedlmayr und die Kunstgeschichte an der Universität Wien 1938-1945, in: Kunstgeschichte an den Universitäten im Nationalsozialismus (= Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft; Bd. 5), hgg. von Jutta Held / Martin Papenbrock, Göttingen 2003, 161-194.

Daniela Bohde