Rolf Peter Sieferle / Fridolin Krausmann / Heinz Schandl u.a.: Das Ende der Fläche. Zum gesellschaftlichen Stoffwechsel der Industrialisierung (= Umwelthistorische Forschungen; Bd. 2), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 370 S., ISBN 978-3-412-31805-5, EUR 42,90
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Kaum ein Thema hat Umwelthistoriker in Europa so sehr fasziniert und zur Forschung angeregt wie die Industrialisierung. Standen dabei lange Zeit die negativen Umwelteffekte, allen voran die Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden, im Mittelpunkt, so wird seit geraumer Zeit immer stärker der fundamentale ökologische Wandel analysiert, der industrielle von allen historischen Vorläufergesellschaften unterscheidet. Auch den Autoren des hier besprochenen Werkes geht es nicht primär um die ökologischen Probleme dieses Transformationsprozesses; vielmehr sind sie dem "sozialen Metabolismus" auf der Spur, "also dem Stoffwechsel zwischen menschlichen Gesellschaften und ihrer natürlichen Umwelt" (1).
Die ersten beiden Kapitel beschreiben das "ancien regime biologique" (103), die energetischen Grundlagen der vorindustriellen Landwirtschaft, und bilden somit den Ausgangspunkt der Betrachtung. Es folgt ein Abschnitt über die Einflussfaktoren und den historischen Kontext der industriellen Revolution, bevor in den sich daran anschließenden drei Kapiteln der transformatorische Prozess detailliert am Beispiel von zwei Volkswirtschaften beschrieben wird. Durch die Auswahl der beiden Staaten - das Vereinigte Königreich von Großbritannien als Vorreiter der Industrialisierung und Österreich, ein Nachzügler - wird das Spektrum sichtbar, "innerhalb dessen sich die Transformation in ganz Europa vollzog" (248). Kapitel 8 fasst die Ergebnisse zusammen, ein Anhang zur Methodik der Historischen Material- und Energieflussanalyse beschließt den Band.
Im Mittelpunkt des Buches steht die Umwandlung solarenergiebasierter landwirtschaftlicher Gesellschaften in industrielle Regime, die auf der Entnahme nicht erneuerbarer Rohstoffe aufbauen. Über 10.000 Jahre, von der neolithischen Revolution bis zur industriellen Transformation, prägte die agrarische Produktions- und Lebensweise bei allen lokalen und regionalen Unterschieden hochkomplexe Gesellschaften ebenso wie kleinste dörfliche Gemeinschaften. Diese Ära zeichnete sich aus durch einen "irreversiblen Pfad der Kolonisierung von Natur" (17), durch die zunächst unbewusste, dann aber immer stärker geplante Umgestaltung der natürlichen Umwelt mit dem Ziel der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Die diesen Gesellschaften zur Verfügung stehende Energie stammte zum überwiegenden Teil von der elektromagnetischen Strahlung der Sonne und manifestierte sich in Form von Wind und Wasserkraft oder über den Umweg der Photosynthese als thermische (Brennstoffe) und mechanische Energie (Nahrung für Tiere und Menschen). Dieses System war im Prinzip nachhaltig, weil es mit Ausnahme des Waldes keine größeren Energiebestände gab, die aufgebraucht werden konnten. Wasser- und Windenergie mussten unmittelbar genutzt werden, während Nutzpflanzen in der Regel einen maximal einjährigen Energievorrat lieferten. Energie kam somit aus der Nutzung mehr oder weniger konstanter Flüsse und aus der Fläche. In Österreich wurden noch im frühen 19. Jahrhundert mehr als 80 Prozent der nutzbaren Fläche zur Gewinnung von Primärenergie verwendet (201).
Waren die Flächenkapazitäten erschöpft, dann konkurrierten verschiedene Nutzungsformen zwangsläufig miteinander. "Wachstum" im modernen Sinne war bei einer derartigen negativen Rückkoppelung kaum möglich. Das System hatte eher den Charakter eines Nullsummenspiels, in dem es vor allem um die "Verteilung gegebener Flüsse ging" (106). Hätten zum Beispiel Pferde die Zuglast erbringen müssen, die die britischen Eisenbahnen im Jahr 1890 allein für den Gütertransport aufbrachten, dann wäre zur Ernährung dieser Tiere eine Fläche von etwa 40.000 Quadratkilometern, einem Sechstel des Territoriums Großbritanniens, erforderlich gewesen. (187)
Erst mit dem intensiven Abbau von Steinkohle, dem "unterirdischen Wald" [1], und in der Folgezeit anderen fossilen Brennstoffen konnte diese Beschränkung überwunden werden. "Fossile Energieträger konkurrieren nicht mehr, wie dies bislang mit Brennstoffen der Fall war, mit alternativen Formen der Flächennutzung, das heißt, sie setzen große Mengen an Flächen frei, die nun für die Agrarproduktion (oder für Naturschutzgebiete) verfügbar werden" (180). Die Flächensubstitution durch Kohle etwa entsprach um 1840 bereits der gesamten, virtuell bewaldeten Fläche Großbritanniens (verglichen mit acht Prozent um 1700). Heute entspricht die aus allen fossilen Energieträgern erzielte Flächensubstitution dem Zehnfachen der Landesfläche des Vereinigten Königreichs (181f.).
Die Transformation des sozialmetabolischen Regimes wird von den Autoren nicht als monokausale Erklärung vorgeführt, sondern breit in die räumlich und zeitlich verschiedenen Kontexte der Industrialisierung verankert und in die jeweiligen Forschungsdebatten eingebettet. So wird mehrfach überzeugend darauf hingewiesen, dass das bloße Vorhandensein fossiler Ressourcen nicht ausreichte, um den Transformationsprozess zu starten. Nur wenn eine positive Rückkoppelung mit technischen, kulturellen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen einsetzte, wie es vor allem in England der Fall war, konnte der fundamentale Wandel seinen Anfang nehmen (Kapitel 4). Durch diese Kontextualisierung gewinnt die zentrale These noch an Bedeutung. Während etwa der Zusammenhang zwischen Industrialisierung und der Herausbildung des modernen Verwaltungs- und Rechtsstaates, dem Gedankengebäude der Aufklärung, der europäischen Expansion und dem Kolonialismus, der Funktion von technischen Innovationen oder des Fabriksystems alles andere als eindeutig und leicht zu verorten ist, so ist die umwelthistorische Zäsur eine viel klarere. Alle industrialisierten Staaten haben diese Transformation durchgemacht und sich vom Diktat des Flächenmanagements befreit (allerdings um den Preis gravierender und weitgehend ungelöster Deponieprobleme). Anders ausgedrückt: Ohne Umstellung auf die neuen Energieträger wäre die Industrialisierung nicht nur unwahrscheinlich, sondern einfach unmöglich gewesen.
Vieles in "Das Ende der Fläche" ist bekannt, nicht zuletzt durch die bisherigen Arbeiten der Autoren selbst. Gerade deshalb stellt der Band aber eine gelungene Symbiose der Forschung zum sozialen Metabolismus der Industrialisierung dar. An einigen Stellen führt die Ko-Autorenschaft jedoch auch zu Problemen. So wirken die für sich selbst genommen überzeugenden Fallstudien in Kapitel drei vor dem Hintergrund des ansonsten großräumig argumentierenden Buches etwas deplatziert. Um aus solchen "mikrostrukturellen Untersuchungen agrarischer Produktionstypen vor dem Beginn der Industrialisierung ... Gemeinsamkeiten zu erkennen", hätte der Bogen etwas weiter als über drei Dörfer in Österreich gespannt werden müssen (102). Für das 20. Jahrhundert wiederum hätte der Blick ein wenig mehr über die Grenzen Europas hinaus gehen können. Zwar wird für Großbritannien festgestellt, dass "Importflächen" (191) bis in die Gegenwart eine relativ geringe Bedeutung hatten; ganz so leicht lassen sich die Asymmetrien im Welthandel, ungleiche Entwicklungen und die stark zunehmenden Importe fossiler Energieträger in vielen Industriestaaten aber nicht wegerklären. Hier gibt es vielleicht Ansatzpunkte zur Verknüpfung des "biophysische(n) Ansatz(es)" (1) mit einer globalen politischen Ökonomie.
Sollte es jemals zu einer "Rematerialisierung" der Geschichtswissenschaften kommen, dann wird die Umweltgeschichte sicherlich ein gewichtiges Wort mitzureden haben. Man kann Forschungsergebnisse wie diesen Band durchaus als komplementären Entwurf zum "cultural turn" lesen, der die stoffliche Grundlage kultureller Produktionen, gerade derjenigen des urbanen Lebens, oftmals in Vergessenheit geraten lässt.
Anmerkung:
[1] Rolf Peter Sieferle, Der unterirdische Wald: Energiekrise und industrielle Revolution. München 1982.
Uwe Lübken