Rolf Peter Sieferle u.a.: Transportgeschichte (= Der Europäische Sonderweg; Bd. 1), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2008, 292 S., ISBN 978-3-8258-0697-2, EUR 39,90
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Leandro Prados de la Escosura (ed.): Exceptionalism and Industrialisation. Britain and its European Rivals, 1688-1815, Cambridge: Cambridge University Press 2004
Alison Fleig Frank: Oil Empire. Visions of Prosperity in Austrian Galicia, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2005
Burkhard Beyer: Vom Tiegelstahl zum Kruppstahl. Technik- und Unternehmensgeschichte der Gussstahlfabrik von Friedrich Krupp in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Essen: Klartext 2007
Dieses von Rolf Peter Sieferle herausgegebene Buch beruht auf einer 2004 von der Breuninger Stiftung publizierten, aber zu Unrecht wenig wahrgenommenen Studie im Rahmen des dortigen Forschungsprojekts "Der Europäische Sonderweg". Dieses Projekt widmet sich der Frage, warum die Industrialisierung in Europa ihren Anfang nahm und nicht in anderen Weltgegenden.
Zu dieser Thematik gibt es mittlerweile eine Vielfalt von Erklärungsansätzen: Neben den in Europa "zufällig" gegebenen natürlichen Voraussetzungen [1] wurden die ökonomischen und geopolitischen Besonderheiten Europas [2] betont. Daneben bekamen bei Arbeiten von Ökonomen dazu die Einbeziehung technischer Kreativität und die Schaffung von Wissen [3] unter Einbeziehung institutioneller Revolutionen [4] eine wichtige Bedeutung zugemessen. In unterschiedlichen Einwertungen über die Bedeutung einzelner Faktoren, wurde so die Besonderheit der Entwicklung in Europa diskutiert, meist vergleichend mit dem Nahen Osten und insbesondere mit China.
Im vorliegenden Buch, welches aus fünf aufeinander abgestimmten Aufsätzen von Autoren aus verschiedenen Disziplinen besteht, werden nun die Transportbedingungen für Güter, Menschen, aber auch Informationen als Erklärung für den europäischen Sonderweg der wirtschaftlichen Entwicklung diskutiert, wobei entgegen vieler anderer Werke zur Geschichte des (Fern-) Transports hier nun die Entwicklungen des "alltäglichen" Transports im Binnenland der jeweils betrachteten Weltgegend im Mittelpunkt stehen. Diese Entwicklungen werden als wichtiges Element der Integration und Vereinheitlichung von Märkten identifiziert und sind als Voraussetzung für die Arbeitsteilung und damit für wirtschaftlichen Aufstieg im Sinne von Adam Smith anzusehen.
In seinem einführenden, systemtheoretisch ausgerichteten Aufsatz präsentiert Sieferle seine Idee der Bedeutung unterschiedlicher energetischer Regime, insbesondere des solar-energetischen Energiesystems und des fossilen, auf Kohle basierenden Energiesystems für Transportaktivitäten. Damit kann er für verschiedene Transportarten unterschiedlichen Energieaufwand identifizieren und in Verbindung mit geographischen, klimatischen, aber auch demographischen Gegebenheiten quasi auf abstrakte Art und Weise die Vorteilhaftigkeit unterschiedlicher Transportarten für zunächst immer subsistenzwirtschaftlich geprägte, agrarische Gesellschaften in unterschiedlichen Weltgegenden ableiten. Als ein wichtiges Ergebnis dieser Analyse hält Sieferle fest, dass sich im Nahen Osten das Packkamel als Transportmittel, in China insbesondere die menschliche Arbeitskraft als vorteilhaft erwiesen hat, in Europa hingegen die Kombination aus Rad und Arbeitstier (Ochse, Pferd). Bei dem allein in Europa von Rad und Achse beherrschten Transportwesen lag es damit nahe, die zur Ernährung der Arbeitstiere benötigte Solarenergie zu ersetzen durch eine (auch dann in Europa erfundene) Maschine, die mit billigerer fossiler Energie betrieben werden konnte. Dieser Wechsel im energetischen System erleichterte die Transportbedingungen und schuf damit ein sich selbst verstärkendes wirtschaftliches Wachstum.
Im nachfolgenden Aufsatz skizziert Kurt Möser ebenfalls auf einer mehr abstrakten Analyseebene, was eigentlich "Transport" ist und welche Bedeutung der Transport für eine wachsende, sich ausdifferenzierende Volkswirtschaft hat. Die für den Rezensenten entscheidende Feststellung besteht darin, dass für die wirtschaftliche Entwicklung nicht die Existenz einzelner Transportmittel wichtig ist, sondern die multimodale Verknüpfung zu einem Transportsystem, welches als dichtes Infrastrukturnetz aufeinander abgestimmter Transportmittel pünktliche, sichere und flexible Dienste zur Verfügung stellt. Inwiefern dies in Europa, im Nahen Osten und in China der Fall war, zeigen die sich anschließenden Fallstudien.
Der mit "Europa auf Achse" treffend betitelte Beitrag von Marcus Popplow skizziert die seit dem späten Mittelalter immer weitergehende Optimierung des Transports in Europa. Dabei macht Popplow deutlich, dass weniger "große" Innovationen den Personen-, Güter- und dann auch den Posttransport verbesserten, sondern sich evolutionär entwickelnde technische und insbesondere auch organisatorische sowie infrastrukturelle Neuerungen. Im Zusammenwirken des in England forcierten Kanalbaues, der Küstenschifffahrt und insbesondere des privat organisierten Straßenbaus (das Turn Pike Road System) wurde ein dichtes, solarenergetisch basiertes Verkehrssystem geschaffen, welches auch den Transport von Massengütern wie Kohle und Eisen wirtschaftlich sinnvoll werden ließ. Durch die Anlegung von Straßennetzen und damit die Durchsetzung des Rades und der Achse, sowie spätestens mit Einführung der Eisenbahn als Rad-Schiene-System, wurde der Transport derartiger Massengüter quasi zum sich gegenseitig immer weiter hochschaukelnden Phänomen zwischen dem Transport und den bald mit economies-of-scale produzierten (Industrie-) Gütern. Damit begann aber auch der "switch" vom solarenergetischen System zum auf Kohle beruhenden, fossilen Energieregime. Als einzelne Staaten auf dem Kontinent dann die wirtschaftliche Tragweite des Ausbaues der Verkehrsinfrastruktur erkannten, sprang die Industrialisierung über und machte den englischen zum europäischen Sonderweg. Jedoch wird in diesem Aufsatz nicht auf die rasche Entwicklung des Verkehrsnetzes und der Industrialisierung in Belgien als dem dann kontinentalen Vorreiter eingegangen.
Vollkommen anders sind die Befunde für den Nahen Osten, wie der ein Forschungsdesiderat behandelnde Beitrag von Otfried Weintritt aufzeigt: Obwohl die Darstellung auf die Zeit des 8. bis 10.Jahrhunderts, also die "klassische Zeit des Islam", abstellt, zieht Weintritt den Schluss, dass sich bereits vor der Ausbreitung des Islam von Marokko bis Indien das Packkamel, im Fernhandel kombiniert als Karawanen- und Schiffstransport, als Haupttransportmittel durchgesetzt und das Rad, abgesehen vom Nahtransport, verdrängt hat. Etwas kühn mutet jedoch die Aussage an, dass sich, erstens, daran bis zum 19. Jahrhundert nichts geändert hat und, zweitens, bis dahin der muslimische Glaube in diesem Zusammenhang von Relevanz sei. Naheliegendere Gründe für die Beibehaltung des Kamels als Haupttransport-, aber auch als Nahrungsmittel über Jahrhunderte hinweg, waren die klimatischen Bedingungen des von Wüsten geprägten geographischen Raumes und die Dominanz einer Garten- statt einer "klassischen" Landwirtschaft mit Großviehhaltung.
Ein ebenfalls bisher kaum erforschtes Gebiet behandelt der gelegentlich stark deskriptiv angelegte Aufsatz von Nanny Kim zum Transport im China der späten Kaiserzeit. Kim verdeutlicht, wie die unterschiedliche Geographie und die ökonomische "Binnenorientierung" Chinas zu ausdifferenzierten Transportmitteln führten: Fast keine Seeschifffahrt, aber ausgeprägte Flussschifffahrt, Verwendung von Schiebekarren und von Menschen getragenen Sänften. Tiere waren dabei als Transportmittel unattraktiv, da das agrarische System gelegentlich kaum zur Ernährung der Menschen ausreichte. Bemerkenswert ist der Befund, ohne auf Parallelen zum Bau der französischen Chausseen einzugehen, dass in China das Transportsystem sehr stark zentralstaatlich organisiert war, beispielsweise die Anlage und Nutzung der Kanäle stark auf die Versorgung von Beijing ausgerichtet war und das relativ dichte Netz der Kurierstraßen primär der strategischen inneren Machtsicherung diente und nicht dem kommerziellen Waren- und Personentransport.
In toto liefert dieses angenehm lesbare Buch eine Fülle anregender Ideen, viele neue und oft auch überraschende Einsichten. Obwohl bis zur Industrialisierung in Europa überall das solarenergetische Regime vorherrschte, führte es dennoch in den untersuchten Weltgegenden zu sehr unterschiedlichen Transportsystemen. Dabei scheint bereits vor dem "switch" zum von Kohle geprägten, fossilen Energieregime Europa auch im Transportwesen bereits auf einem Sonderweg, nämlich durch die Dominanz des auf Rad, Achse und Zugtiere beruhenden Transportsystems, gewesen zu sein. Dies würde aber die Relevanz des Wechsels im energetischen System in Europa letztlich wieder relativieren. Etwas verwundert ist der Rezensent aber darüber, dass nach dem letzten Aufsatz das Buch abrupt endet, ohne eine synoptische, die Aussagen der Aufsätze kritisch integrierende Gesamtzusammenfassung zu präsentieren.
Anmerkungen:
[1] Jared Diamond: Arm und Reich, 2. Aufl. 2006.
[2] Eric Jones: The European Miracle, 3rd. ed. 2003; David S. Landes: The Wealth and Poverty of Nations, 1998; Hubert Kiesewetter: Das einzigartige Europa, 2006.
[3] Joel Mokyr: The Lever of Riches, 1990 und Joel Mokyr: The Gifts of Athena, 2002.
[4] Douglass C. North: Structure and Change in Economic History, 1981; Leandro Prados de la Escosura: Exceptionalism and Industrialisation 2004; Clemens Wischermann / Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution, 2004.
Helmut Braun