Waltraud Schreiber / Andreas Körber / Bodo von Borries u.a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell (= Kompetenzen: Grundlagen - Entwicklung - Förderung; Bd. 1), 2. Auflage, Neuried: Ars Una 2006, 63 S., ISBN 978-3-89391-720-4, EUR 7,50
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Die bildungspolitische Debatte nach Pisa hat unter dem enormen Druck, in den Schulen endlich Erfolge vorzuweisen, zwei Richtungen eingeschlagen. Einerseits wird gefordert, Bildung nicht mehr nur als Wissensvermittlung zu verstehen. Schüler sollen sich auf verschiedenen Ebenen Kompetenzen aneignen. Eine inzwischen gängige Dreiteilung ist die Unterscheidung von Sachkompetenz, Methodenkompetenz und Deutungskompetenz. Andererseits übertreffen sich Bildungspolitiker darin, Bildungsstandards einzufordern: Zentralabitur, zentrale Abschlussprüfungen, Lernstandserhebungen überall. Die beiden Begriffe weisen verschiedene Wege aus der Bildungskrise: Reglementierung und Reproduzierbarkeit von Wissen bei den Bildungsstandards hier, die Forderungen nach Methodenvielfalt, mehr selbstständigem Lernen und Kompetenzen dort. In der Praxis, an den Schulen, wird der Schwerpunkt zurzeit eindeutig auf die Reglementierung durch Bildungsstandards gelegt und dafür ein beträchtlicher Aufwand betrieben. Dahinter müssen die konkreten Bemühungen, den Unterricht zu verbessern und Konzepte zur Vermittlung der Kompetenzen zu entwickeln, deutlich zurückstehen - obwohl hier der Schlüssel liegt, Leistungen von Schülern zu verbessern.
Die Autorengruppe des vorliegenden Bandes klärt gleich vorab: Bildungsstandards und Kompetenzen sind Begriffe, die von außen in die Geschichtsdidaktik getragen wurden. Es ist erstens positiv zu vermerken, dass sich eine Reihe renommierter Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker der Aufgabe stellen, diese Begriffe sinnvoll auszufüllen, die "in der deutschen Geschichtsdidaktik bereits weitgehend vorgedacht worden" (7) seien. Es ist zweitens positiv, dass hier eine eindeutige Richtungsentscheidung getroffen wird: Der Nutzen der aktuellen bildungspolitischen Debatte wird für das Unterrichtsfach Geschichte mehr im Bereich der Kompetenzen, weniger der Bildungsstandards gesehen. Vor dem "Drang danach, schnell Papiere vorzulegen, die 'Bildungsstandards' heißen" (9) wird sogar ausdrücklich gewarnt. Die Autoren des Forschungsprojekts "FUER Geschichtsbewusstsein" (Forschungsprojekt zur Förderung und Entwicklung von reflektiertem Geschichtsbewusstsein), Herausgeber des vorliegenden Bandes von gut 60 Seiten, benennen und gewichten Kompetenzbereiche - eingeschränkt auf genuin historische Kompetenzen und nicht solche, die bei der Beschäftigung mit der Geschichte allgemein erworben werden können.
Was macht das "historische Denken" aus? Unter diesem Begriff subsumieren die Autoren ihre Vorschläge zum Kompetenzerwerb, worunter sie nicht nur wissenschaftlich orientierte Kompetenzen verstehen, sondern auch die "Möglichkeiten, menschliches Leben zu bewältigen" (13). Somit knüpfen sie an den in den vergangenen Jahren etablierten Begriff des Geschichtsbewusstseins an. Entgegen der o.g. gängigen Dreiteilung werden vier zentrale Kompetenzbereiche festgelegt, die hier nur skizzenhaft wiedergegeben werden: Die drei Kompetenzbereiche historische Fragekompetenz, historische Methodenkompetenz sowie historische Orientierungskompetenz bilden im Verständnis der Autoren den kreislaufförmigen Prozess der De- und Rekonstruktion von Geschichte ab. Orientierungskompetenz schließt über die Frage nach der eigenen mentalen Disposition und Identitätsbildung hinaus auch das Fremdverstehen, also das in Frage stellen der eigenen Vorstellungen und Meinungen, mit ein, ebenso das Ziel, Schlüsse für das eigene Handeln zu ziehen. Der vierte Kompetenzbereich, die historische Sachkompetenz, zielt im Sinne der Autoren nicht nur auf Themen und Inhalte, sondern auch auf die Kenntnis von historischen "Verfahrensscripts", beispielsweise Quellenanalyse und Quellenkritik. Der Band versucht abschließend, eine Graduierung der Kompetenzen historischen Denkens vorzunehmen und will damit sinnvolle Kriterien zur Formulierung von Standards vordenken, die über das Abfragen von Wissensbeständen hinausgehen.
Die knapp umrissenen Kompetenzbereiche knüpfen stark an die bekannten, vorher so genannten didaktischen Prinzipien rund um den Begriff des Geschichtsbewusstseins an, wie sie in den 1990er Jahren in viele Lernpläne und Curricula Eingang gefunden haben. Hier wird deutlich, dass die Autoren bemüht sind, die Errungenschaften der Geschichtsdidaktik der vergangenen Jahre zu verteidigen. Angesichts des großen Vorsprungs, den die Geschichtsdidaktik gegenüber anderen Fachdidaktiken aufzuweisen hat, ist dieses Bestreben nicht nur verständlich, sondern auch berechtigt. Dennoch drängt sich - anders gewendet - die Frage auf: Was ist wirklich neu an den vorgeschlagenen Kompetenzen? Alter Wein in neuen Schläuchen?
Die Frage nach dem praktischen Nutzen der Diskussion um Kompetenzen lässt sich - noch - nicht beantworten. Die Relevanz des vorgeschlagenen "Kompetenz-Strukturmodells" muss sich in Zukunft daran messen lassen, inwieweit sie bildungspolitisch umgesetzt wird und Eingang in die Schulpraxis findet. Hier weist der Band eine wesentliche und dringend zu füllende Lücke auf, die für die theorielastige akademische Geschichtsdidaktik ganz symptomatisch ist. Das Modell wird nicht ansatzweise herunter gebrochen auf die Praxis und es wird nicht ein Beispiel vorgestellt, wie man die hier formulierten hohen Ansprüche an den Geschichtsunterricht umsetzen will. Es ist nun die dringendste Aufgabe, das Modell anhand von Unterrichtsplanungen zu konkretisieren und somit den verschiedenen Dimensionen des Kompetenz-Begriffs Leben einzuhauchen und die Vorzüge gegenüber dem bisherigen Lernziel-Begriff klar herauszustellen.
Aufhorchen lässt - das sei abschließend noch einmal angeführt - was die Autoren zur Rolle der akademischen Geschichtsdidaktik im aktuellen Diskussionsprozess bemerken: "Es kann selbstverständlich nicht darum gehen, einfach auf den gerade abfahrenden Zug der Bildungspolitik aufzuspringen." (10) Wie bitte? Die Konsequenzen einer solchen (Zurück-)Haltung sind an den Schulen, aus der Froschperspektive der Lehrer, deutlich zu spüren, deren Alltag immer mehr durch zentrale Prüfungen und die Eingabe von immer mehr undurchdachten Bildungsstandards geprägt wird. Einen Leistungskurs in Geschichte auf das Zentralabitur vorzubereiten, heißt heute fast ausschließlich und mit steigender Tendenz Vermittlung von Sachkompetenzen, also von Inhalten und Analyseverfahren. Die akademische Geschichtsdidaktik sollte ihren Einfluss nutzen, diesen Trend zu stoppen. Sie sollte auf den Zug aufspringen und ihn in die Richtung zu lenken versuchen, die der vorliegende Band theoretisch fundiert.
Christoph Pallaske