Robyn Roslak: Neo-Impressionism and Anarchism in Fin-de-Siècle France. Painting, Politics and Landscape, Aldershot: Ashgate 2007, xiv + 217 S., 55 b&w-ill., ISBN 978-0-7546-5711-8, GBP 55,00
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Die Kunst des späten 19. Jahrhunderts strotzt vor utopischen Entwürfen, die meist als Antwort auf die individuellen und sozialen Miseren der fortgeschrittenen Industrialisierung gedacht waren. Paul Gauguin dürfte der Künstler sein, der einem in diesem Zusammenhang als erster einfällt. Die Autorin des vorliegenden, wohltuend knapp gehaltenen Buches, widmet sich den eher im Schatten der Forschung stehenden Neoimpressionisten und identifiziert vergleichbare Anliegen. Ihr methodischer Ansatz ist sozialgeschichtlich geprägt und steht in der Tradition einer linken amerikanischen Kunstgeschichte, für die Namen wie Robert Herbert und Albert Boime stehen mögen.
Dass gerade die Landschaftsmalerei ein sozialkritisch-utopisches Potenzial hat, geht in Frankreich mindestens bis auf die Schule von Barbizon zurück. [1] Als "das Andere" der Gesellschaft konnte die Landschaft Fluchtraum und Mahnbild werden, und die Neoimpressionisten schlossen hier mit ihrer durchweg anarchistischen Tendenz an. Fast noch mehr als an die Impressionisten selbst, deren eher bürgerliche Orientierung auch von Roslak mehrfach angesprochen wird. Das gilt z.B. für die arkadischen Ansichten der Provence, die Paul Signac und Henri-Edmond Cross in den 1890er-Jahren schufen und deren Einbindung in eine provenzalische Regionalpropaganda mit antizentralistischem (und daher Anarchismus-affinem) Akzent Roslak prägnant analysiert (Kap. "Anarchists and Tourists in France"). Es gilt für die Pariser Stadtansichten eines Maximilien Luce, welche die Autorin - allerdings etwas modisch mit Bezug zu Foucault - auch mit sozialkontrollierenden Ansätzen der Haussmannschen Stadterneuerung in Verbindung bringt (82f.). Aber es gilt auch allgemein für die divisionistischen Ansichten, deren "allover" manchmal so weit getrieben ist, dass es in die Abstraktion hineinzuspielen scheint.
Damit sind wir beim entscheidenden Punkt. Neben die motivische Ebene der paradiesischen, von Menschen im Einklang mit der Natur bevölkerten Landschaft tritt die malerisch-technische Ebene, die aber von Roslak auf eindrückliche (wenn auch sicherlich nicht ganz neue [2]) Weise mit der anarchistischen Grundauffassung kurzgeschlossen wird. So wie sich die Anarchisten das autonome, gleichzeitig in einen solidarischen Verband eingeschlossene Individuum vorstellten, so schufen sie mit der divisionistischen Technik ein gestalterisches Äquivalent. Denn die einzelnen Punkte konnten metaphorisch als Individuen gelten, die farbharmonisch in den Punkteteppich eingebunden wurden. So abstrus das klingen mag: Die Neoimpressionisten scheinen diese metaphorische Parallele tatsächlich so gedacht und daraus auch eine moralische Wirkung des Kunstwerkes konstruiert zu haben (17, 99). In diesem Zusammenhang erhellend sind vor allem die Rückgriffe auf die ausführlich dargestellten Schriften des anarchistischen Geografen Elisée Reclus.
Neben die Landschaftsbilder treten in Roslaks Buch die neoimpressionistischen Arbeiter-Darstellungen, die sie braucht, um die anarchistische Gesellschaftsutopie darzulegen. Es fällt ihr auf, dass hier harmonisierende Gestaltungsweisen, die gleichsam die anarchistische Vision ästhetisch vorwegnehmen, mindestens so prominent vertreten sind wie Hinweise auf Entfremdungsphänomene. Dass diese Vision ideologisch ins Diffuse tendiert und sich zuweilen durchaus mit republikanischen, aber auch konservativ-klerikalen Ideen überschneidet, kommt insbesondere im letzten Kapitel zum Ausdruck ("Conclusion: Looking forward, Looking back: Neo-Impressionism around 1900"), das eigentlich nicht wirklich eine Zusammenfassung ist. Die Serie der Nôtre-Dame Bilder von Maximilien Luce deutet sie hier im Rückgriff auf Kropotkins Beschreibung der gotischen Kathedrale in "Mutual aid" von 1902: "It had an audacity [...] it had the expression of vigour, because vigour permeated all the life of the city [...] the cathedral [...] was intended to glorify the grandeur of a victorious city, to symbolize the union of its crafts, to express the glory of each citizen in a city of his own creation." (185) Der nostalgische Rückgriff auf ein unentfremdetes Mittelalter scheint die Vorstellung der Anarchisten mindestens so sehr geprägt zu haben, wie die revolutionäre Utopie.
Eine Bemerkung noch zur Ausstattung des Buches. Die einzige Farbabbildung findet sich auf dem Cover. Dabei muss wohl kaum erwähnt werden, dass die Autorin sich aus nahe liegenden Gründen immer wieder auf die Farbgestaltung der divisionistischen Bilder bezieht, was damit kaum nachvollziehbar wird. Offenbar sind die Produktionskosten für Farbabbildungen inzwischen so hoch, dass man weitgehend auf sie verzichtet, obwohl doch immer wieder gesagt wird, dass erst das Buch einen adäquaten Eindruck vom Aussehen des Kunstwerkes gibt - wenn man es schon in der Reproduktion zur Kenntnis nehmen muss. Wie dem auch sei. Ich erlaube mir, hier einige Links zu setzten, die dem Leser auch einen Farbeindruck von einschlägigen Werken geben: Angrand , Cross, Luce, Signac und Seurat.
Anmerkungen:
[1] Greg M. Thomas: Art and ecology in nineteenth-century France: the landscapes of Théodore Rousseau, Princeton 2000.
[2] Vgl. John G. Hutton: Neo-Impressionism and the search for solid ground. Art, science, and anarchism in fin-de-siècle France, Baton Rouge u. a. 1994; Michael Zimmermann: Seurat. Sein Werk und die kunsttheoretische Debatte seiner Zeit, Weinheim 1991.
Hubertus Kohle