Gwilym Dodd / Anthony Musson (eds.): The Reign of Edward II. New Perspectives, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2006, x + 244 S., ISBN 978-1-903153-19-2, GBP 45,00
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Jean le Bel gab in seiner Chronik lediglich eine in England allgemein verbreitete Ansicht wieder, als er feststellte, dass zwischen zwei mächtigen Königen zumeist ein schwacher anzutreffen sei. Und tatsächlich: mit Blick auf Edward II. scheint sich diese Feststellung zu bewahrheiten. Sowohl sein Vater, Edward I., als auch sein Sohn, Edward III., gelten als "große" Könige, als Souveräne, deren politisches Agieren England eine Dominanz in Europa garantierte. Anders Edward II.: bereits für die Zeitgenossen war er das Musterbeispiel eines unfähigen Herrschers, der die ihm obliegenden Aufgaben nicht nur vernachlässigte, sondern diese in die Hände moralisch fragwürdiger Günstlinge legte, für die nicht das Wohl des Königreichs, sondern der eigene Aufstieg im Zentrum des Interesses stand. Diese Beurteilung erwies sich als ausgesprochen langlebig: Noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wurden englische Geschichtslehrer aufgefordert, die unglückselige Zeitspanne von 1307 bis 1327 zu übergehen, um Schüler nicht unnötig in Verwirrung zu stürzen. Die Prüderie des Viktorianischen Zeitalters triumphierte: ein schwacher Souverän mit offensichtlich homosexuellen Neigungen passte nicht ins Bild. Auch in der Geschichtswissenschaft war das Interesse an der Regierungszeit Edwards II. lange Zeit verhalten. Erst in jüngster Zeit wurden vermehrt Anstrengungen unternommen, Edward II. seinen Platz innerhalb der "edwardianischen Epoche" zuzuweisen, seine Persönlichkeit und Regierungstätigkeit durch eine stärkere Fokussierung auf die reichlich fließenden administrativen Quellen zu beleuchten. Die Forschung liebt Pendelbewegungen: das, was einst vehement verdammt wurde, hat gute Chancen auf Rehabilitierung. Wohlgemerkt: Edward II. wird sicherlich niemals in den Kreis der großen englischen Herrscher aufsteigen, doch ist seine Regierungszeit nicht derart negativ zu beurteilen, wie es ein ausschließlicher Blick auf die Chronistik nahe legt.
Vorliegender Sammelband, der zwölf Beiträge eines an der Universität von Nottingham 2004 veranstalteten Symposiums über Edward II. versammelt, bietet - dies sei vorweggenommen - eine überzeugende mise à jour der Forschung. Als ein Charakteristikum der Beiträge insgesamt darf dabei das Bemühen gelten, anstatt der Brüche die Kontinuitäten in der Regierungstätigkeit zu betonen. Im Zentrum des Interesses steht zunächst die komplexe Persönlichkeit Edwards II. J. S. Hamilton versucht in seinem Beitrag (The character of Edward II. The letters of Edward of Caernarfon, 5-21), ein Porträt des 1284 geborenen Thronfolgers zu entwerfen und richtet dazu den Blick auf die erhaltenen Briefe der Jahre 1304/1305. Deutlich wird, dass sowohl Edwards Interessen als auch seine Einbindung in Beziehungsgefüge weit weniger spektakulär und exzentrisch waren als vermutet. Edward schien nicht nur führenden Adligen in Freundschaft verbunden, sondern auch daran interessiert, sich in den für einen Thronfolger vorgegebenen Bahnen von Ausbildung und Freizeitgestaltung zu bewegen. Anders ausgedrückt: er suchte nicht ständig die Gesellschaft zwielichtiger Personen und rückte das dem Sozialprestige unbedingt abträgliche Schwimmen nicht ins Zentrum seiner sportlichen Aktivitäten. Edwards vermeintliche Homosexualität wird in zwei gewichtigen Beiträgen von W. M. Ormrod (The sexualities of Edward II, 22-47) und I. Mortimer (Sermons of sodomy. A reconsideration of Edward II's sodomitical reputation, 48-60) einer näheren Betrachtung unterzogen. Dabei geht es weniger um die Klärung der Frage, ob Edward hetero- oder homosexuell war, im Blickpunkt stehen vielmehr die Zuschreibungsmechanismen, die Edwards Sexualität dergestalt instrumentalisierten, dass durch sie die Angriffe oppositioneller Gruppen auf den König moralisch unterfüttert werden konnten. Mortimer gelingt mittels eines akribischen Vergleichs der 21 Quellen, in denen der Tod des Königs thematisiert wurde, der Nachweis, dass der Sodomievorwurf maßgeblich auf die Predigten des Bischofs von Hereford, Adam Orleton, zurückzuführen ist, der sich seinerseits an den gegen Bonifaz VIII. und die Templer konstruierten Anklagepunkten orientierte. In Verbindung mit der unbestreitbaren emotionalen Abhängigkeit Edwards von seinen Günstlingen und der - in großen Teilen ebenfalls konstruierten - moralischen Verderbtheit auf vielen anderen Gebieten ergab sich ein explosives Gemisch, das vom König nicht mehr beherrscht werden konnte und 1327 zur Explosion drängte.
Weitere Beiträge beschäftigen sich mit Aspekten der Hof- und Verwaltungsorganisation. Den königlichen Haushalt behandelt Michael Prestwich (The court of Edward II, 61-75) anhand der erhaltenen Abrechnungen, während Alistair Tebbit den Blick auf die militärischen Führungsqualitäten Edwards richtet (Household knights and military service under the direction of Edward II, 76-96). Sein Verhältnis zum Recht und konkreten Formen der Rechtsprechung stehen im Zentrum der Ausführungen von Anthony Musson (Edward II. The public and private faces of the law, 140-164) und Gwilyn Dodd (Parliament and political legitimacy in the reign of Edward II, 165-189).
Einige Persönlichkeiten im Umfeld des Königs werden durch Einzelbeiträge gewürdigt. Alison Marshall richtet den Blick auf die beiden jungen Halbbrüder Edwards (The childhood and household of Edward II's half-brothers, Thomas of Brotherton and Edmund of Woodstock, 190-204) und untersucht dabei nicht nur die Struktur und Organisation ihres Haushalts, sondern auch die Qualität der Erziehung und den Charakter ihrer Beziehungen zu Vater und Halbbruder. Mit Hugh Despenser dem Älteren gerät einer der von den Baronen verhassten Favoriten Edwards in den Blickpunkt des Interesses. Martyn Lawrence zeichnet den Aufstieg Despensers eindrucksvoll nach (Rise of a royal favourite. The early career of Hugh Despenser the Elder, 205-219) und zeigt seine unbestreitbaren administrativen und diplomatischen Fähigkeiten auf. Ob die ihm vom König übertragene Autorität und ungeheure Machtfülle eine Überforderung und Auslöser seines Niedergangs war, mag dahingestellt bleiben, sicher ist jedoch, dass sich in der Person Despensers vieles von dem widerspiegelt, was die Herrschaft Edwards II. insgesamt charakterisiert: auf einen vielversprechenden Beginn folgt der durch Extravaganz, Korruption und mangelndes entregent verursachte Untergang. J. R. Philipps fasst in seinem abschließenden Beitrag (The place of the reign of Edward II, 220-233) viele der zuvor aufgeworfenen Aspekte noch einmal zusammen, liefert wertvolle Bemerkungen zu Bildung und Frömmigkeit des Königs und versucht vor diesem Hintergrund zur Klärung der Frage beizutragen, weshalb Edward II. "everybody's property"(220) werden konnte.
Die Beiträge demonstrieren insgesamt, dass es Edward weder an administrativen noch an politischen Fähigkeiten mangelte - zur Haushaltskonsolidierung trug seine Politik ebenso bei wie zu einem entspannten Verhältnis zum Papst -, dass seine Bildung und Frömmigkeit sich in konventionellen Bahnen bewegten und er schwer an dem Erbe trug, das ihm der "Über"-Vater Edward I. hinterlassen hatte. Das Sprunghafte, Kapriziöse seiner Natur wird dabei nicht verschwiegen, aber vor dem Hintergrund seiner restlichen Lebensäußerungen gedeutet und relativiert. Eine grundsätzliche Neubewertung der Person und Regierung Edwards II. findet so also nicht statt, doch verstärkt sich nach der Lektüre des Bandes der Eindruck, dass Edward II. Opfer des selektiven Umgangs mit der Chronistik geworden und das von der Chronistik vermittelte Bild nicht in Übereinstimmung mit den Aussagen der administrativen Quellen zu bringen ist. Eine Stärke der Beiträge liegt sicherlich auch darin, dass neue Forschungsperspektiven aufgezeigt werden, die zu weiterer Behandlung geradezu einladen. Nicht nur die Schottlandpolitik bedarf in diesem Zusammenhang einer umfassenderen Betrachtung, auch Edwards Verhältnis zum Reich dürfte noch weitere Ansatzpunkte zur Beantwortung der Frage liefern, ob eine "Außenpolitik" insbesondere in den kritischen 20er-Jahren des 14. Jahrhunderts existierte. Darüber hinaus verspricht auf der Rezeptionsebene eine vergleichende Betrachtung des den beiden Erzfeinden Thomas of Lancaster und Edward II. inhärenten "Heiligkeitspotentials" bzw. dessen Instrumentalisierung durch unterschiedliche Interessengruppen reichen Ertrag. Ein Index der Personen und Orte beschließt einen Band, der von der Innovationskraft der englischen Mittelalterforschung zeugt und Ausgangspunkt zahlreicher weiterer Einzelstudien werden dürfte.
Ralf Lützelschwab