Matthew Doyle: Peter Lombard and His Students (= Medieval Law and Theology; 8), Toronto: Pontifical Institute of Mediaeval Studies 2016, XII + 302 S., ISBN 978-0-88844-201-7, USD 90,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Steven A. Schoenig: Bonds of Wool. The Pallium and Papal Power in the Middle Ages, Washington, DC: The Catholic University of America Press 2016
Margaret Harvey / Linda Rollason (eds.): The Rites of Durham, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2020
Cecilia Gaposchkin (ed.): Vexilla Regis Glorie. Liturgy and Relics at the Sainte-Chapelle in the Thirteenth Century, Paris: CNRS Éditions 2021
Spricht man von Petrus Lombardus, verweist man in den allermeisten Fällen auf sein Hauptwerk, die Sentenzen. Bis weit in die Neuzeit hinein gehörten sie zu den grundlegenden Texten im Theologiestudium - und dies so erfolgreich, dass der Autor hinter seinem Werk verschwand. Matthew Doyle, der bereits 2005 mit einer Arbeit über Bernhard von Clairvaux und sein Verhältnis zu den Schulen hervorgetreten [1], für die Thematik mithin bestens ausgewiesen ist, tritt nun mit der Absicht an, Petrus Lombardus als Theologen, Kanoniker des Pariser Kathedralkapitels und Bischof umfassender als bisher geschehen zu skizzieren. Die erkenntnisleitende Frage lautet: "Is there a Peter Lombard away from the Sentences?" (1)
An Untersuchungen zum Werk des Lombarden besteht kein Mangel. Auf wenigen Seiten zeichnet Doyle ein eindringliches Bild der Forschungsgeschichte - die Predigten beispielsweise, in der Ausgabe der Patrologia Latina Hildebert von Lavardin zugeschrieben, wurden erst 1888 durch Barthélemy Hauréau als Werke des Lombarden identifiziert. [2] Und der einzige, umfangreichere biographische Abriss findet sich noch immer im Vorort zur kritischen Edition der Sentenzen, die Ignatius Brady 1971 vorlegte. [3] Marcia Colishs 1994 erschienenes, zweibändiges Werk zum Lombarden führte zu einem Aufblühen der Forschungen [4], allerdings ist Colishs Begeisterung für ihren Protagonisten so ausgeprägt, dass neben ihm kaum ein anderer zeitgenössischer Theologe bestehen kann.
Das vorliegende Werk versteht sich als Biographie des Petrus Lombardus - ein weiteres Beispiel für den Stellenwert, den das biographische Genre in der Geschichtswissenschaft derzeit besitzt. Was Zeitgenossen über ihn zu sagen wussten, hält sich in engen Grenzen und man wird wohl feststellen müssen, dass das, was bisher über seine ersten vier Lebensjahrzehnte bekannt war, derart viele biographische Leerstellen aufweist, dass nicht unmittelbar verständlich wird, wie Petrus Lombardus der Sprung in die Gelehrtenwelt, ins Kapitel von Notre-Dame und schließlich auf den Pariser Bischofsthron überhaupt gelingen konnte.
Doyle gliedert seine Arbeit in zwei große Teile mit insgesamt neun Kapiteln. Der erste Teil widmet sich detailliert der Karriere, während der zweite das Verhältnis des Petrus Lombardus zu seinen Studenten untersucht.
Peters Familienhintergrund war keineswegs illuster: fast 40 Jahre lang war er auf die Unterstützung reicher Gönner angewiesen. Seine Schulbildung erhielt er wohl teilweise in Novara, womit er allerdings seinen Lebensunterhalt bis 1134 bestritt, ist unklar. Zu diesem Zeitpunkt wurde er vom Bischof von Lucca, Uberto, keinem Geringeren als Bernhard von Clairvaux anempfohlen. Und dieser sorgte dafür, dass er zunächst in der Domschule von Reims, später dann in Paris unterkam, wo man ihm in St. Victor Kost und Logis gewährte. Für die Karriere des Lombarden sollte sich diese Unterstützung als zentral erweisen. Aber auch Glück spielte bei der Etablierung in Paris eine Rolle: Hugo von St. Victor und Abaelard starben 1141, Gilbert wurde 1142 zum Bischof von Poitiers, Robert Pullen 1144 zum Kardinal erhoben. Die verbliebene Konkurrenz war also überschaubar - insgesamt gute Voraussetzungen, um sich als Theologe zu etablieren.
Noch 1144, als Petrus Lombardus zum Kanoniker des Kathedralkapitels ernannt wurde, war er ein Außenseiter, der in einen verschworenen Kreis eindrang. Doyle widmet ein ausgesprochen lesenswertes Kapitel der sozialen Zusammensetzung dieses Kapitels im Zeitraum von 1145-1160 (Tabelle 1 listet sämtliche Würdenträger auf, 78-80). Dem Verfasser ist an Kontextualisierung gelegen: und so liest man die konzisen Einblicke in die Geschichte der französischen Monarchie im 12. Jahrhundert mit ihren handelnden Personen mit Gewinn. Doyle präferiert ganz offensichtlich den Blick auf das personale Tableau - auf Würdenträger, die die Geschicke des Königreichs, auf Kleriker, die die Geschicke von Notre-Dame und der Pariser Schulen geprägt haben. Er macht dabei auch auf so manches Forschungsdesiderat aufmerksam: es dürfte jetzt wohl nicht mehr allzu lange dauen, bis sich jemand der "Loisirs" (Otium Hugonis) des Hugo von Champfleury, Kanoniker an Notre-Dame seit 1147, Kanzler ab 1151, annehmen wird. Dasselbe gilt für die Arbeiten Odos von Soissons (bzw. Ourscamp), die - wie aus den Ausführungen deutlich wird - ein größeres Publikum verdient hätten.
Petrus Lombardus nutzte die Zeit als Kanoniker: sein Kommentar zu den Paulusbriefen und die in vier Bücher gegliederten Sentenzen entstehen in dieser Zeit. Aber auch innerhalb des Kapitels stieg er langsam auf, so dass er 1160 als gut vorbereitet auf das Pariser Bischofsamt gelten durfte. Petrus' Zeit als unterrichtender Theologie-Magister war vergleichsweise kurz und dauerte nur knapp 20 Jahre. Aber vier Schüler waren es, die den Ruhm ihres Lehrers weitertrugen und sein Andenken ehrten: 1. Petrus Comestor; 2. Herbert of Bosham; 3. Wilhelm von Tyrus; 4. Adam of Wales. Daneben wissen wir von fünf weiteren Schülern. Doyle schätzt, dass Petrus im Laufe seiner Karriere 40-50 Schüler gehabt haben dürfte. Die Kontakte untereinander waren eng: dies war von umso größerer Bedeutung, als diese Schüler die Lehre ihres Meisters korrekt und unverfälscht weiterzutragen hatten. Fast ist man geneigt, von einem Interpretationsmonopol zu sprechen, das nach dem bereits 1160 erfolgten Tod des Lombarden tatsächlich bald gefragt war.
Geprägt wurden die Schüler auch von den Predigten, die ihr Meister hielt. 34 von ihnen sind erhalten geblieben - und spielten bisher in der Forschung eine ganz und gar marginale Rolle. Dankbar ist man deshalb für den Abschnitt, der ihnen gewidmet wird (123-164), auch wenn der Rezensent nach der Lektüre der Aussage, die Predigten gehörten zu den "most self-revealing things he wrote" (120), nur bedingt zuzustimmen vermag. In einem Zwischenstadium mäandernd - nicht mehr Homilie, noch nicht sermo modernus -, verfügen sie zwar über bemerkenswerte Passagen spiritueller Unterweisung und Interaktion mit dem Publikum, doch erscheint dies alles insgesamt noch recht unspezifisch, ja geradezu konventionell.
Die Protagonisten der abschließenden Kapitel sind die Schüler. Petrus Comestor, dessen noch heute in 800 Abschriften überlieferte Historia scholastica ein Bestseller der Zeit war, steht dabei klar im Zentrum. Sein Bemühen, den Sentenzen den ihnen gebührenden Platz im universitären Curriculum zuzuweisen, beruhte zum einen auf seinem Sentenzenkommentar, dem ersten in einer Reihe unzähliger weiterer, zum anderen auf der Schrift De sacramentis, die nichts weiter als eine Kurzfassung von Buch IV der Sentenzen ist, verfasst für einfache Gemeindepfarrer. Comestor popularisierte damit die Sentenzen und machte sie für ein allgemeines Publikum zugänglich.
Herbert of Bosham wählte einen anderen Weg, indem er den Psalmenkommentar seines Meisters herausgab und dies zu einem Zeitpunkt, als dessen Reputation durch Häresievorwürfe schon arg in Mitleidenschaft gezogen worden war. Doyle entwickelt die bedenkenswerte These, durch diesen Kommentar habe die Orthodoxie des Lombarden gegen seine Ankläger untermauert werden sollen.
Das, was in Publikationen zu einzelnen Gelehrten und ihren Werken mitunter unangenehm auffällt, nämlich die Tendenz, Gedankengänge langatmig zu paraphrasieren, fehlt bei Doyle: er hat die Gabe, Dinge klar und konzise wiederzugeben ohne dabei unzulässig zu verkürzen. Auch vor argumentativ gut gestützter Thesenbildung schreckt er nicht zurück. Dies macht vorliegendes Werk zu einer insgesamt bereichernden Lektüre, auch wenn für so manche Behauptung das letzte Wort sicherlich noch nicht gesprochen ist. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Predigttätigkeit innerhalb des Kathedralkapitels, wo das Verb "praedicare" nicht immer im spezifischen Predigtsinn zu verstehen ist, sondern beispielsweise auch einfach nur als "Wortverkündigung" (und dazu gehört schlicht auch das Verlesen des Evangeliums) aufgefasst werden kann.
Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage fällt insgesamt aber eindeutig aus: Ja, es gibt einen Petrus Lombardus jenseits der Sentenzen - einen ganz offensichtlich sehr guten, charismatischen und inspirierenden Lehrer. Doyle hat uns diesen Menschen nähergebracht.
Anmerkungen:
[1] Matthew Doyle: Bernard of Clairvaux and the Schools. The Formation of an Intellectual Milieu in the First Half of the Twelfth Century, Spoleto 2005.
[2] Barthélemy Hauréau: Notice sur les sermons attribués à Hildebert de Lavardin, in: Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothèque Nationale 32 (1888) 107-166.
[3] Ignatius Brady: Prolegomena to Sententiae in IV libris distinctae, 2 Bde., Rom 1971/81, Bd. 1: 5*-169*; Bd. 2: 5*-100*.
[4] Marcia L. Colish: Peter Lombard, 2 Bde., Leiden 1994.
Ralf Lützelschwab