Karl-Joseph Hummel / Christoph Kösters (Hgg.): Kirchen im Krieg. Europa 1939-1945. Mit einer Zusammenfassung in englischer Sprache, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007, 614 S., ISBN 978-3-506-75688-6, EUR 48,00
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Die NS-Forschung hat in den letzten Jahren einen Schwerpunkt auf die Erforschung des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges gesetzt. Diesen Trend hat die kirchliche Zeitgeschichtsforschung aufgegriffen und 2004 ein Kolloquium über die Kriegsjahre veranstaltet, dessen Ergebnisse nun in einem umfangreichen Sammelband vorliegen. Obwohl die Kommission für Zeitgeschichte als Veranstalterin der Katholizismusforschung verpflichtet ist, deckt das Buch beide großen Konfessionen in Deutschland ab. Außerdem - der Plural im Titel ist Programm - öffnet es die Perspektive auch für die christlichen Kirchen in den vom Deutschen Reich besetzten Ländern Europas. Mit insgesamt 21 Aufsätzen entfaltet der Sammelband ein weites Panorama der sehr heterogenen Situationen und Verflechtungen von Kirchen und Gläubigen mit dem Krieg führenden NS-Regime. Dadurch markiert er den Anspruch, dieses große Forschungsfeld zu vermessen und die bestimmenden Entwicklungslinien zu konturieren.
Schon der Aufbau verdeutlicht, dass es sich um keine Binnensicht des Kirchenkonflikts im "Altreich" mit lediglich schmückendem, europäisierendem Beiwerk handelt. Der erste Abschnitt "Europäischer Krieg und christliche Kirchen" bietet einen Abriss der kirchenpolitischen Situation in Nord-, West- und Ostmitteleuropa. Beim Vergleich wird sogleich klar, warum sich die ebenfalls an dieser Stelle präsentierten Zentralinstanzen der Katholiken und der protestantischen Kirchen so schwer taten, eine klare Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus einzunehmen. Sowohl der Heilige Stuhl als auch der Ökumenische Rat der Kirchen mussten nämlich sehr heterogene Interessen und Bedingungen berücksichtigen. Zu diesem Hintergrund passt die differenzierte Sicht auf Papst Pius XII., mit der Thomas Brechenmacher Zielkonflikte, Handlungsspielräume und Illusionen des Vatikans im Lichte erst seit kurzer Zeit zugänglicher Quellen auslotet.
Die zweite Sektion behandelt unter dem Titel "Krieg in der Theologie" die innerkirchliche Reflexion und den Umgang mit dem Krieg. In beiden Konfessionen brachen sich dramatische Entwicklungen Bahn. Die Kirchen konnten den Gläubigen den Krieg nicht mehr erklären, geschweige denn legitimieren, denn die traditionellen Deutungsmuster passten nicht zur Realität des Weltanschauungs- und Vernichtungskrieges. Zwar bestanden diese Muster noch fort, neben ihnen entstand jedoch eine Leerstelle, die theologisch im Begriff des "abwesenden Gottes" (deus absconditus) ihren Niederschlag fand. Das Versagen der Kirchen als Sinnstiftungsinstanz beschleunigte die Erosion der konfessionellen Milieustrukturen. Auch der kurze "religiöse Frühling" unmittelbar nach Kriegsende hielt die Entchristlichung nicht auf. Für den Protestantismus war es ein Schock, nicht mehr mit einer guten und gerechten Obrigkeit rechnen zu können. Die Konsequenzen für das Verhältnis von Staat und Kirche waren auf längere Sicht die Öffnung für Demokratie und Pluralität.
Der dritte Abschnitt über "Christen in der Kriegsgesellschaft" ist der umfangreichste. Die neun darin enthaltenen Aufsätze führen eindringlich vor Augen, dass einerseits die Konfrontation zwischen NS-Regime und Kirchen keineswegs in einem "Burgfrieden" suspendiert wurde, sondern eher noch zunahm. Andererseits zog das karitative Engagement der Kirchen, die daran schon allein deswegen festhielten, um dieses Wirkungsfeld im Abwehrkampf gegen die staatliche Entkonfessionalisierungspolitik nicht preiszugeben, ihre Verstrickung in NS-Verbrechen nach sich. Während sich kirchliche Institutionen gegen die Verdrängungsversuche des NS-Regimes zur Wehr setzen mussten, wie Anne Mertens anhand des "Klostersturms" zeigt, trugen konfessionelle Gesundheitseinrichtungen auch die rassistischen Elemente der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik mit, und zwar nicht allein unter Zwang. Diesen Grundkonflikt bringt Winfried Süß in seinem Beitrag über das Gesundheitswesen auf die Formel der "antagonistischen Kooperation". Ob man nicht treffender von "partieller Zusammenarbeit weltanschaulicher Gegenspieler" sprechen sollte, weil ja nicht die Kooperation als solche antagonistisch war, darüber ließe sich streiten. Unstrittig ist, dass es ein Nebeneinander von zum Teil erbittert geführter Auseinandersetzung, Verfolgung und geschmeidiger Zusammenarbeit gab, wenn kirchliche und regimekonforme Organisationen auf gemeinsamen Handlungsfeldern praktisch miteinander auskommen mussten. Genau diese Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit kennzeichnet das Dilemma der Kirchen im Krieg, wie der Band an vielen Stellen immer wieder eindrücklich herausstreicht. So gab es weder auf katholischer noch auf evangelischer Seite grundsätzliche Scheu, Zwangsarbeiter zu beschäftigen, und ihre Lebensverhältnisse waren nicht besser als in vergleichbaren (d. h. eher kleinen und landwirtschaftlichen) Betrieben. Zugleich bemühten sich katholische Einrichtungen, katholische Zwangsarbeiter seelsorgerisch zu versorgen, obwohl der NS-Staat dies zu unterbinden suchte.
Der letzte Abschnitt beschäftigt sich mit Widerstand und Erinnerung. Dass der christlich motivierte Widerstand unter diesem Fokus betrachtet wird, markiert den Paradigmenwechsel in der Beschäftigung mit der Geschichte der Kirchen im 'Dritten Reich', die zunächst als heroische Geschichte von Verfolgung und Widerstand geschrieben wurde. Nunmehr ist Widerstand nur noch ein Aspekt, dessen Platz im Geschichtsbild der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit als geistesgeschichtliche Sonde analysiert wird. Damit verblasst der letztlich unversöhnliche Gegensatz zwischen dem NS-Regime und den christlichen Kirchen. Weil beide keine Doppelloyalitäten duldeten und verbindliche Werte auf eine unhinterfragbare Autorität stützten, Werte, die einander zutiefst entgegengesetzt waren, konkurrierten die Hüter des christlichen Glaubens und die Apostel der nationalsozialistischen "Weltanschauung" um nichts weniger als die Seelen. Zu Recht unterstreicht Christoph Kösters daher, dass die Wechselwirkung zwischen katholischer Kirche und Krieg sich nicht in deren unterstützenden Rolle für den Krieg erschöpfte (397).
Dieser Sammelband löst seine oben genannten Ansprüche vollauf ein. Seine Erträge belegen, dass die Kirchen aktiver Teil der NS-Gesellschaft waren. Das komplizierte Verhältnis lässt sich auch nicht auf den Nenner eines klaren Antagonismus zwischen NS-Staat und katholischem Milieu bringen. Auch auf der protestantischen Seite verschwimmen bei näherem Hinsehen die Gewissheiten: Einige Opfer und sogar Widerstandskämpfer aus ihren Reihen hatten zu Beginn des 'Dritten Reiches' den Nationalsozialismus begrüßt und unterstützt. Umgekehrt hat die Katholizismusforschung auch einige 'braune Priester' ausgemacht. Doch obwohl solche Erkenntnisse pauschalierende Urteile in Frage stellen, überwiegen unter dem Strich, wie Karl-Joseph Hummel betont, die verfolgten Kirchenvertreter. Dies wird von der Öffentlichkeit anders wahrgenommen: Es ist mehr von der 'kirchlichen Schuld' als von der aus Glaubensüberzeugung gewonnenen Kraft, sich dem Nationalsozialismus zu entziehen oder sogar entgegenzustellen, die Rede.
Der Sammelband ist nicht angetreten, dieses Bild umzustoßen. Dennoch tut er viel dafür, es zu korrigieren. Besonders verdienstvoll sind die Hinweise auf offene Fragen und Forschungslücken, die nicht nur von den einzelnen Autoren kommen, sondern auch in zwei Diskussionsberichten aufgezeigt werden. Für die weitere Beschäftigung mit dem Thema ist der Band daher eine unverzichtbare Lektüre.
Bernhard Gotto