Hans Gebhardt / Dorothee Sack (eds.): History, Space and Social Conflict in Beirut. The Quarter of Zokak al-Blat (= Beiruter Texte und Studien; Bd. 97), Würzburg: Ergon 2005, XVI + 406 S., ISBN 978-3-89913-451-3, EUR 78,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Banafsheh Keynoush: Saudi Arabia and Iran. Friends or Foes?, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2016
Gottfried Herrmann: Persische Urkunden der Mongolenzeit. Text- und Bildteil, Wiesbaden: Harrassowitz 2004
Georges Tamer (Hg.): Humor in der arabischen Kultur, Berlin: De Gruyter 2009
Kristina L. Richardson: Difference and Disability in the Medieval Islamic World. Blighted Bodies, Edinburgh: Edinburgh University Press 2012
Zerstörungen, die Kriege hinterlassen, können das Erscheinungsbild von Städten nachhaltig negativ prägen. Im schlimmsten Fall ist die historische Substanz einer Stadt ausgelöscht, wenn Gleichgültigkeit im Wiederaufbau zu unwiederbringlichem Verlust lang gewachsener Strukturen führt. Zahlreiche europäische Städte waren nach dem Zweiten Weltkrieg von diesem Schicksal betroffen.
Erfahrungen mit der kriegsbedingten Ruinierung von Städten gibt es aber auch im Nahen Osten. Die libanesische Hauptstadt Beirut ist eines der bekanntesten Beispiele der jüngeren Geschichte. Die Jahre des libanesischen Bürgerkriegs von 1975-1990 haben das historische Zentrum der Stadt ausgelöscht. Andere Viertel wurden stark beschädigt. Kriegsruinen, verfallene oder verlassene Gebäude bestimmten oder bestimmen noch immer die Erscheinung ganzer Straßenzüge. In Stadtteilen, die weniger direkt von materieller Zerstörung betroffen waren, veränderten ökonomische Not, Flucht oder unkontrollierte Zuwanderung den Charakter der Stadt.
Der vorliegende Sammelband mit sieben Einzelbeiträgen handelt immer wieder, aber keineswegs nur von dieser bedeutsamen Phase der jüngeren Stadtgeschichte Beiruts. Am Beispiel eines Stadtteils, des Viertels Zokak el-Blat, wird der Wandel der Stadt über einen langen Zeitraum analysiert. Dabei wird deutlich, dass nicht erst der Krieg Beirut verändert hat. Schon weit früher sind in der Entwicklung des Viertels Anzeichen jener gesellschaftlichen Umbrüche zu konstatieren, die zum Ausbruch des Kriegs 1975 beigetragen haben.
In einem mikrohistorischen und interdisziplinären Ansatz haben deutsche Geographen, Stadtplaner, Architekten, Sozialanthropologen, Islamwissenschaftler und Sozialhistoriker (um nur einige der Spezialisierungen zu nennen) die Geschichte von Zokak el-Blat aus verschiedenen Perspektiven rekonstruiert.
Die Anfänge des Viertels, das als eine Erweiterung extra muros des in seinen Ursprüngen phönizischen Beirut begann, reichen zurück bis in die Zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Als ein Gartengebiet mit vereinzelten Häusern zur Erholung für wohlhabende Stadtbewohner, aber auch zur Seidenraupenzucht und Agrikultur, wurde Zokak el-Blat begründet. Heute liegt das Viertel zentrumsnah inmitten der Stadt und zählt geschätzte 18.000 Einwohner.
Die Entwicklung des Viertels in städtebaulicher und demographischer Hinsicht ist Gegenstand des umfangreichsten Beitrags (35-107). Zahlreiche, nach Katasterplänen, alten Karten und Informationen aus Archivmaterial erstellte Kartogramme des Viertels belegen anschaulich den langsamen Prozeß der urbanen Verdichtung und kennzeichnen genau die Phasen, in denen sich städtebaulich unumkehrbare Veränderungen vollzogen. Mikroanalytische Sozialgeschichte und Stadtgeschichte werden dabei aufeinander bezogen. Dass die Veränderungen immer wieder am Beispiel der Schicksale einzelner Familien und Personen belegt werden, macht die Lektüre, zusätzlich zum hohen Ertrag aufgrund hervorragender Dokumentation, streckenweise auch noch spannend.
Zokak el-Blat war zunächst ein Stadtteil der Mittel- und Oberschicht, in dem über lange Zeit unterschiedliche Konfessionen - verschiedene christliche Bekenntnisse und sunnitische Muslime - gut nebeneinander, aber auch miteinander leben konnten. Dieser Charakter des Viertels und die Nähe zum Stadtzentrum machten es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst attraktiv als Sitz von Verwaltungsinstitutionen des Osmanischen Reichs. Nach dem Ersten Weltkrieg entdeckte die Mandatsmacht Frankreich seine Vorzüge durch Lage und Infrastruktur. Der hohe Anteil von Schulen und Bildungseinrichtungen, der auch heute noch Teile des Viertels prägt, geht zurück auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.
In einem Beitrag (143-174), der sich Zokak el-Blat als einem Ort intellektueller Betätigung, ja geradezu als einem Knotenpunkt der libanesischen und arabischen Geistesgeschichte in der Spätzeit der osmanischen Ära widmet, wird deutlich, wie sehr die frühe Prägung des Viertels durch die liberale und weltoffene Grundhaltung seiner überwiegend wohlhabenden und gut gebildeten Bevölkerung Journalisten, Schriftsteller und Gelehrte anzog.
Einen bedeutenden Umbruch erlebte das Viertel in der Zeit des französischen Mandats 1920-1946. Ein Anstieg der Bevölkerung und neue Bebauung leiteten einen unumkehrbaren Wandel nicht nur im äußeren Erscheinungsbild ein. Die Folgen des Ersten Weltkriegs mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs, der Vertreibung und Flucht religiöser und ethnischer Minderheiten im Zuge der Entstehung nationalstaatlicher Grenzen und die ökonomische Not der Landbevölkerung führten zu einer ersten Aufweichung der gewachsenen Sozialstruktur des Viertels. Christliche Armenier und sunnitische Kurden aus den ehemaligen Provinzen des Osmanischen Reichs und Schiiten aus den ländlichen Regionen des heutigen Südlibanon wanderten zu.
Mit diesen Migranten, die zumeist zur Unterschicht oder unteren Mittelschicht gehörten, verlor Zokak el-Blat langsam den Charakter eines Viertels der gebildeten Mittel- und Oberschicht. Die Einführung des Proporzes zwischen den religiösen Gruppen im Jahr 1932 förderte die konfessionelle Spaltung der libanesischen Gesellschaft insgesamt und zeitigte auch ihre negativen Konsequenzen in den traditionell überkonfessionellen Formen des Zusammenlebens in Zokak el-Blat, die das 19. Jahrhundert geprägt hatten.
Die Zunahme der Bevölkerung, die Veränderung ihrer Zusammensetzung, die bauliche Verdichtung und Abwanderung angestammter Bewohner setzten sich auch nach der libanesischen Unabhängigkeit fort. Ein erster, kurzer Bürgerkrieg im Jahr 1958, in dem sich Christen und sunnitische Muslime in Beirut gegenüber standen, führte zu einem Exodus christlicher Bewohner aus Zokak el-Blat und anderen Vierteln im Westen Beiruts. Die spätere Teilung der Stadt in einen muslimischen Westen und einen christlichen Osten war damit bereits am Ende der 1950er Jahre weitgehend vollzogen, die Konfliktlinien schon festgelegt.
Der Band dokumentiert nicht nur die sozialgeschichtliche und allgemein städtebauliche Dimension der Entwicklung. Auch eine ausführliche und aus verschiedenen Perspektiven durchgeführte Bestandsaufnahme der architektonischen Veränderungen bis hin zur Frage der gegenwärtigen und zukünftigen Gestaltung des Viertels und seines historischen Erbes gehört zu den Stärken des Buches. Zahlreiche Karten und Photographien im Anhang ermöglichen dabei eine gute Orientierung auch für Interessierte, die Beirut nicht aus eigener Anschauung kennen.
In Teilen konnten die Autoren für ihre Beiträge auf neuere Arbeiten libanesischer und auswärtiger Forscher zurückgreifen, in zahlreichen anderen Passagen aber ist eigene und langfristige Feldforschung in den Band eingeflossen. Was fehlt? Gerne hätte man mehr erfahren über die ökonomischen Bedingungen wenn nicht des vergangenen, so doch des gegenwärtigen Lebens in Zokak el-Blat, über Handel, Handwerk und Dienstleistung, Einkunftsquellen und Auskommen der jetzigen Bewohner.
Störend für den Leser, aber bei einem solchen Projekt wohl unvermeidlich, sind Überschneidungen zwischen den Beiträgen. Insgesamt aber ist das sorgfältig gearbeitete Buch eine fundierte Bereicherung der Forschungsliteratur zum Libanon, nicht nur zu seinen Konflikten. Er ist aber auch zu empfehlen für alle, die sich mit sozialem Wandel im Nahen Osten beschäftigen, ebenso wie für Architekturhistoriker und kritische Architekten.
Esther Peskes