Hans Günter Hockerts / Claudia Moisel / Tobias Winstel (Hgg.): Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945-2000, Göttingen: Wallstein 2006, 876 S., ISBN 978-3-8353-0005-7, EUR 64,00
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Bereits Mitte der 1960er-Jahre galt die Entschädigung in- wie auch ausländischer NS-Verfolgter in der bundesdeutschen Selbstwahrnehmung als abgeschlossen. Kennzeichnend hierfür war, dass Kanzler Ludwig Erhard 1965 das "Ende der Nachkriegszeit" verkündete und damit zugleich einen Schlusspunkt hinter die bis dahin geleistete Wiedergutmachung setzen wollte. Genau das aber sollte sich als eine grundlegende Fehleinschätzung erweisen, rückten doch mit der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition und endgültig seit dem Ende des Kalten Krieges unzählige Wiedergutmachungsfragen überhaupt erst auf die Agenda der internationalen Politik.
Obwohl das Thema in den letzten Jahren wachsendes Interesse fand, blieb lange Zeit ein markantes Ungleichgewicht bestehen, wie Hans Günter Hockerts in seiner luziden Einführung zur Entschädigung von NS-Verfolgten in West- und Osteuropa zu zeigen vermag. Denn ungeachtet der Tatsache, dass mehr als neunzig Prozent der Opfer von NS-Massenverbrechen Ausländer waren, geriet die "Internationalität der Entschädigungsgeschichte" viel zu sehr aus dem Blick. Fast scheint es so, als habe die Forschung sich zu lange im Bann der bundesdeutschen Entschädigungsgesetzgebung, vor allem aber der Regelungen des Luxemburger Schuldenabkommens von 1953, bewegt. Letztere hatten eine Prüfung aller einschlägigen Fragen "bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt". Bis 1989 sorgten sie für eine "entschädigungsrechtliche Spaltung des Kontinents", so dass rund neunzig Prozent der bundesdeutschen Wiedergutmachungsleistungen an Verfolgte gingen, die in den Reichsgrenzen von 1937 gelebt hatten, wohingegen NS-Verfolgten aus dem westeuropäischen Ausland nur mit großen Mühen und erheblichen Verzögerungen ähnliche Leistungen zuteil wurden. Noch härter traf es NS-Opfer in Osteuropa, gingen sie doch mit ganz wenigen Ausnahmen über mehrere Jahrzehnte fast völlig leer aus. Freilich lag in diesem Ausschluss anfangs nichts Anstößiges, worauf Hockerts in seiner Skizze ebenfalls hinweist, denn dieses Resultat war nicht zuletzt der innerdeutschen Entschädigungsgesetzgebung geschuldet, die gerade Ansprüche außerhalb der noch festzulegenden Reparationsleistungen abdecken sollte. Der im Kalten Krieg eingetretene Reparationsstopp wirkte jedoch gegenläufig, so dass es letztlich zu einer massiven Ungleichbehandlung zwischen deutschen und ausländischen Opfern kam.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung fragen die Autorinnen und Autoren der vorliegenden zehn Fallstudien zu westeuropäischen sowie vier weiteren zu osteuropäischen Staaten danach, wie die bilateralen und internationalen Entschädigungsabkommen seit den 1950er-Jahren konkret zustande kamen und welche Interessen dabei im Einzelnen den Ausschlag gaben. Des weiteren richten sie ihre Aufmerksamkeit auf die Verfahren, mit denen in den Heimatstaaten der Verfolgten die entstandenen Schäden bemessen und welche Versorgungsprogramme daraufhin in eigener Regie geschaffen oder welche Wiedergutmachungsforderungen an die deutsche Seite gestellt worden sind. Zusätzlich gehen alle Beiträge der Frage nach, wie die Rolle des eigenen Landes in den Kriegs- und Besatzungsjahren im Licht der nationalen Entschädigungsprogramme und -forderungen gedeutet wurde.
Auf der Grundlage dieses klaren Fragerasters bietet der vorliegende Band ein breites Panorama der Wiedergutmachungsgeschichte in Europa, von dem zahlreiche Nachfolgeprojekte profitieren werden. Denn auf der Basis einer dichten Dokumentation bieten die umfangreichen, streckenweise wohl auch zu lang geratenen Teilabhandlungen sowohl eine Analyse der Wiedergutmachungsdiplomatie als auch der Praxis materieller Wiedergutmachung. Angesichts der vielen praktischen Schwierigkeiten, die bei den Recherchen zu überwinden waren - das von Hagen Fleischer und Despina Konstantinakou behandelte griechische Fallbeispiel sticht hier ins Auge - wiegen die Ergebnisse umso schwerer.
Im Rahmen dieser Besprechung kann hiervon nur wenig verdeutlicht werden. So stellen Tobias Winstel und Constantin Goschler mit Blick auf die bundesdeutsche Politik heraus, dass Differenzen zwischen den beteiligten Ministerien eine Lösung von Wiedergutmachungsfragen ausländischer NS-Verfolgter langfristig verzögerten; meist setzte sich der Ressortegoismus der Finanzminister durch. Auffallend ist ebenso, wie sehr das Auswärtige Amt regelmäßig gegenzusteuern versuchte, nicht zuletzt sensibilisiert von seinen diplomatischen Außenstellen. Das Bundeskanzleramt hielt sich in dieser Frage jedoch lange Zeit merklich bedeckt, wohl auch, weil die öffentliche Meinung in einer Abwehrhaltung befangen blieb: Wiedergutmachung war in der Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt ein populäres Thema.
Dass sich die Situation seit den 1950er-Jahren dennoch änderte, verdankte sich primär starkem internationalen Druck. Gleichzeitig demonstrieren die Fallbeispiele jedoch, wie sehr interne Interessenkonflikte den Abschluss von Entschädigungsabkommen mit der Bundesrepublik blockieren oder zumindest verzögern konnten. Es machte eben einen Unterschied, in welchem Verhältnis der Antrag stellende Staat im Zweiten Weltkrieg zum Deutschen Reich gestanden hatte. Daher nimmt es nicht wunder, dass zunächst die nationalen Verfolgtenverbände und darunter wiederum in vorderer Front die Organisationen ehemaliger Widerstandskämpfer als treibende Kräfte in Erscheinung traten, während ihre Regierungen anfangs noch meist um Diskretion bemüht waren. Dennoch: In Westeuropa schlossen zwischen 1959 und 1964 elf Länder so genannte Globalabkommen mit der Bundesrepublik, während sich jenseits des Eisernen Vorhangs bis Ende der 1980er-Jahre kaum etwas tat. Dieser Stillstand verdankte sich in ganz erheblichem Ausmaß der Bonner Blockadepolitik, hatte aber auch andere Gründe. So sorgte etwa der Devisenhunger der wirtschaftlich schwachen Volksdemokratien für eine indirekte Entschädigungspolitik. "Devisen statt Wiedergutmachung" lautete die für beide Seiten vorteilhafte Formel, auf die man sich erstmals 1973 in einem deutsch-jugoslawischen Abkommen einigte - selbstverständlich ohne dies so offen zu bekennen.
Während West- und Osteuropa lange Zeit getrennte Wege gingen, rückten sie in einem wichtigen Punkt bereits früh eng zusammen: bei der Definition des Begriffs "NS-Verfolgter". Während die deutsche Seite ausdrücklich eine Wiedergutmachung für Deportationen von Widerstandskämpfern oder für Opfer von Massakern im Partisanenkampf ausschließen wollte (hier ging es neben der Abwehr finanzieller Forderungen vor allem darum, die Wehrmacht nicht zu belasten), bezogen die ausländischen Regierungen genau die gegenteilige Position. Schon aus Gründen der Staatsräson sahen sie sich in einer Phase, in der der Widerstand meist als Keim der nationalen Wiedergeburt galt, zu einem solchen Kurs verpflichtet. Nicht zufällig sprach ein von Filippo Focardi und Lutz Klinkhammer zitiertes Ausführungsdekret der italienischen Regierung aus dem Jahr 1963 von einer "riparazione morale". Das wiederum schloss keineswegs weiterreichende Konflikte aus, wie Claudia Moisel veranschaulicht. So erhielten Juden, die als Emigranten nach Frankreich gekommen und dann in ein Konzentrationslager deportiert worden waren, keine Entschädigung, weil sie die französische Staatsbürgerschaft nicht besaßen.
Hier wie auch an vielen anderen Stellen wird die ungeheure Komplexität der Wiedergutmachung mit ihren unzähligen Einzelfällen in mustergültiger Weise analysiert. Trotz des Umfangs fragt man sich jedoch, wieso wichtige Teile Osteuropas ausgespart bleiben; Russland, Weißrussland und die Ukraine fehlen. Überdies legen die meisten Beiträge den Akzent auf die Entschädigungsdiplomatie, während die Einstellungen in der Öffentlichkeit oder die Binnendifferenzen zwischen Parteien und rivalisierenden Opfergruppen eher kursorisch behandelt werden. Dennoch: Auch hier vermittelt der vorliegende Band wichtige Anregungen. Auf der Grundlage akribischer Forschungsarbeit füllt er außerdem eine eklatante Forschungslücke. Nicht zuletzt bietet er einen vorzüglichen Einstieg in eine Problematik, deren politische Brisanz auch noch in den kommenden Jahren spürbar bleiben wird.
Christoph Cornelißen