Wilfried Hartmann (Hg.): Recht und Gericht in Kirche und Welt um 900 (= Schriften des Historischen Kollegs; 69), München: Oldenbourg 2007, IX + 249 S., ISBN 978-3-486-58147-8, EUR 49,80
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Der Sammelband ist aus einem Kolloquium des Historischen Kollegs in München hervorgegangen, das sich zur Aufgabe setzte, die Zeitspanne zwischen rund 850 und 950 in Bezug auf die Rechtstätigkeit und das Rechtsleben in Kirche und Welt zu untersuchen.
Es handelt sich dabei um eine Zwischenzeit nach den gewaltigen Anstrengungen der karolingischen Reformperiode und vor dem Umbruch des Kirchenrechts - und in seiner Folge auch des weltlichen Rechts - durch seine Verwissenschaftlichung und Systematisierung im 11./12. Jahrhundert. Das Alte ist noch vorhanden, aber das Neue kündigt sich schon in Ansätzen an. Das berühmte Sendhandbuch des Regino von Prüm von etwa 900, das, leicht gekürzt und mit einer Übersetzung versehen, von Wilfried Hartmann 2004 herausgegeben wurde, wird in mehreren Beiträgen schwerpunktmäßig behandelt. Es entstand im abgesteckten Untersuchungszeitraum zur Halbzeit; doch hat es dementsprechend eine Schwellenfunktion innegehabt? Zukunftsweisend in das 11. Jahrhundert ist Reginos Bemühen, Sachverhaltselemente und Tatbestandsmerkmale typisierend zu erfassen und eine Art Rechtsquellenlehre in Form einer Erläuterung seiner Textauswahl in der Vorrede zu geben. Er hatte bereits ein rudimentäres Bewusstsein von unterschiedlichen Rechtskategorien, wie sich an seiner Problemlösung zur Unfreienehe erkennen lässt. Untergliederungen seiner Fragenkataloge lassen manchmal eine Art Sachtitel entstehen, enthalten Querverweise, und führen gelegentlich durch Verallgemeinerung zur Begrifflichkeit (Harald Siems). Reginos Umgang mit dem gallo-fränkischen und karolingerzeitlichen Eherecht, insbesondere zu Scheidung, Wiederverheiratung und Inzest, zeigt, dass er alle ihm bekannten Kanones zitierte, und zwar geordnet nach dem Alter und der Autorität der Quellencopora. Es standen ihm jedoch weniger Corpora zur Verfügung, als bisher angenommen. Seinen eigenen Standpunkt verdeutlichte Regino durch "Glossen, Auslassungen, Umstellungen, hierarchische Anordnungen und durch Einfügen römischrechtlicher und theologischer Quellen" (119), eine durchaus richtungweisende Arbeitsweise. Die pastorale Sorge um das Realisierbare und Praxisnahe habe er dabei stets über das sture Festhalten am undurchführbaren Dogma gesetzt. Infolge dessen könne man ihm keine Doppelmoral unterstellen, die ihn angeblich zu unterschiedlichen Stellungnahmen im Sendbuch und in seiner Chronik verleitet habe (Karl Uhl).
Reginos Sendbuch war auch für Konzilsteilnehmer des 10. Jahrhunderts ein wichtiges Handbuch. Wurden nämlich Beschlüsse aus der Karolingerzeit aufgegriffen, stützte man sich nicht auf die Kanones und die Kapitularien selbst, sondern auf Reginos Sammlung.
Die synodale Tätigkeit im ostfränkisch-deutschen und westfränkischen Reich lässt nur durch die formale Tatsache, dass sie stattfanden, vor allem von herrscherlicher Seite das Bestreben nach Kontinuität und nach konsensualer Herrschaft über die Kirche erkennen. Die Synodalen selbst legten weniger Wert auf die karolingische Tradition, sondern suchten - wie die karolingischen Synoden schon ihrerseits - die "Übereinstimmung mit den großen Konzilien der alten Kirche und den Entscheidungen ihrer Päpste" (129). Das Ziel war nicht die Reform im Sinne von neuer Rechtsetzung, sondern die Ausführung bereits vorhandener und akzeptierter Normen im alltäglichen Bereich von beispielsweise Ehe, kirchlichen Feiertagen und Kirchenschutz. Dabei ist Ernst-Dieter Hehls Beobachtung aufschlussreich, dass es keine Korrelation zwischen versiegender Synodaltätigkeit und abnehmender Schriftlichkeit gibt. Die höhere Schriftlichkeit im Westfrankenreich verhinderte dort nicht die frühere Einstellung der synodalen Tätigkeit. Im Ostfränkisch-deutschen Reich fanden in der schriftzeugnisarmen Zeit der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts mehr Konzilien statt, als in der zweiten Hälfte, als die Schriftlichkeit wieder zunahm. Zukunftsweisendes wird in diesem Bereich erst am Ende des 10. Jahrhunderts sichtbar: Einige Bischöfe, namentlich die Erzbischöfe Giselher von Magdeburg und Willigis von Mainz, zogen kirchenrechtlich geschulte Kleriker als fachkundige Berater in Rechtsstreiten von Bedeutung heran. Mit Burchard von Worms bestieg einer dieser Fachleute selbst die bischöfliche Kathedra. Der Weg zum juristisch ausgebildeten und in der inneren Verwaltung erfahrenen Bischof beginnt, sich Bahn zu brechen (vgl. auch die Vita Bischof Ulrichs von Augsburg).
Die Tendenz zu juristischem Spezialwissen zeichnet sich etwa zur gleichen Zeit im angelsächsischen England sowohl bei Konzilien als auch bei königlichen Versammlungen ab. Es habe besondere königliche Versammlungen gegeben, welche die Rechtsbücher der Könige Ine und Edmund in der Regel als ein Gemeinschaftswerk von weltlichem und geistlichem Fachwissen produzierten, so eine These von Catherine Cubitt. Das zeitenübergreifende Anliegen sei die Behauptung der kirchlichen Position in der Königsherrschaft gewesen. Eine Folge davon war das Eindringen kirchlicher Bannflüche in die Königsdiplome. Damit ist ein weiterer Bereich des Rechts und Gerichts angesprochen, denn wie verhielt es sich mit Buße und Rekonziliation von Gebannten im Untersuchungszeitraum? Auch hierbei spielt Reginos Sendbuch als Transportmedium für Exkommunikationsformeln und Versöhnungsriten eine Rolle. Der handschriftliche Befund schließt nicht aus, dass die fränkischen Versöhnungsriten im späten 11. Jahrhundert auch in England bekannt geworden sein könnten (Edition des fränkischen und des angelsächsischen Ritus durch Sarah Hamilton, 190-196). Die Exkommunikation entfaltete ihre Wirkung jedoch weniger durch königliche Autorität oder kirchliche Strafe als durch die schrecklichen Verfluchungen selbst und die gefürchteten Bußrituale (Catherine Cubitt). Reginos Sendhandbuch könne auch in dieser Hinsicht nicht überschätzt werden (Ludger Körntgen), denn es lebe von einer lebendigen karolingischen Tradition und einem sicheren Verständnis für die "praktische Durchführung der Buße unter Leitung der Priester" (214).
"Wie die Bußbücher in der Praxis funktioniert haben können" (231), versucht Rob Meens zu erschließen, wobei er nicht nur von einer individuellen Anwendung in der so genannten Privatbuße, sondern von deren Vermischung mit der öffentlichen Buße ausgeht. Bußbücher können auf diese Weise eine Funktion in der Beilegung von Konflikten in lokal begrenzten Gesellschaften übernommen haben. Alle Beiträge würdigen das lebendige Fortwirken der großen Reformanliegen aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Es sind aber gerade die eher unscheinbaren Details, die das Neue ankündigen und eine Reaktion auf die neuen Erfordernisse erahnen lassen. Ihre Entfaltung bleibt jedoch dem 11. und 12. Jahrhundert vorbehalten. Dies legen auch die beiden Beiträge dar, deren Schwerpunkt auf der Untersuchung der Gerichtstätigkeit liegt. Päpstliche Entscheidungen etwa waren um 900 trotz der Skandale an der Kurie nach wie vor gefragt. Die Pflege dieser Gerichtstradition und die Anerkennung der päpstlichen Autorität sind die Wegweiser, und am Ende des langen Weges steht ein institutionell gefestigtes Papsttum (Klaus Herbers). Das Königsgericht zeigt sich um 900 in einem Zwielicht: Es spiegelt eine anerkannte Funktion des Herrschertums wieder, doch trägt es auch obrigkeitsfeindliche Züge, denn in vielen Fällen, in denen der König selbst Partei war oder mit einer Partei sympathisierte, unterlag er dem konsensualen Urteil der Richter.
Insgesamt gesehen lohnt sich der Blick auf die Zwischenzeit von rund 850 bis 950, denn die Untersuchung der "erstaunlich großen Zahl von Handschriften mit Rechtstexten" (2) dürfte noch manche Überraschung bergen und macht den vorliegenden Sammelband zu einer Fundgrube für die Überlieferungswege von Rechtsätzen und den Umgang mit Recht in einer Übergangsphase.
Brigitte Kasten