Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg: Hamburger Edition 2007, 595 S., 60 s/w-Abb., ISBN 978-3-936096-80-4, EUR 35,00
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Wer in den vergangenen Jahren Gelegenheit hatte, Bernd Greiners Vorträge über den Vietnamkrieg zu hören bzw. seine zahlreichen Aufsätze zu lesen, der durfte auf sein opus magnum gespannt sein, das die von der US-Armee in Vietnam begangenen Kriegsverbrechen gegen Zivilisten erstmals umfassend darstellen und analysieren sollte. Mit Krieg ohne Fronten legt der Hamburger Historiker nun eines der bedeutendsten Bücher vor, die bislang über diesen Krieg geschrieben wurden. Der Untertitel des Buches ist etwas irreführend, denn Greiner beschränkt sich auf einen, allerdings zentralen, aber bislang unterbelichteten Aspekt der amerikanischen Kriegsführung: die von den US-Bodentruppen verübten Gräueltaten gegen die südvietnamesische Zivilbevölkerung, inklusive Massakern, dem willkürlichen Morden von Einzelpersonen, Folter, Verstümmelung, Vergewaltigung oder Leichenschändung. Im Unterschied zum Bombenkrieg und zum Einsatz von Napalm oder Entlaubungsgiften, so Greiner, lassen sich diese zivilen Opfer nicht als "Kollateralschäden" entschuldigen (24), obwohl, wie der Autor überzeugend belegt, die getöteten Zivilisten in den Einsatzberichten der Truppe routinemäßig entweder als feindliche Kämpfer oder als Opfer von Kreuzfeuer gelistet wurden. Das berüchtigte Massaker von My Lai im März 1968 nimmt auch in Greiners Buch breiten Raum ein, doch dokumentiert das Buch ausführlich, dass es eine ganze Reihe weiterer My Lais gab. Diese wiederum erscheinen nur als radikale Zuspitzung der alltäglichen Mordpraktiken wie z. B. den "Eichhörnchenjagden", die Hubschrauberbesatzungen auf wehrlose Menschen in den Reisfeldern veranstalteten.
In der Einleitung zu Krieg ohne Fronten bemerkt Bernd Greiner, dass die Historiografie zum Vietnamkrieg - wie im Übrigen zur Geschichte des Krieges insgesamt - zumeist entweder eine politisch-strategische Vogelperspektive oder eine kultur- und erinnerungsgeschichtliche Retrospektive einnehme, dabei aber den eigentlichen Krieg, das Töten und Sterben, aus den Augen zu verlieren drohe. Letzteres birgt nun wiederum die Gefahr latent gewaltpornografischer Kompilationen von Morden und Massakern, die nicht selten mit dem Gestus von Entlarvung und Anklage vorgetragen werden. Die wissenschaftliche Qualität von Krieg ohne Fronten erweist sich freilich darin, dass Greiner allen diesen Gefahren souverän entgeht. Seine Sprache ist analytisch-distanziert, obwohl die Lektüre der geschilderten Ereignisse stellenweise schwer zu ertragen ist. Das Buch ist empirisch minutiös belegt und beruht auf der erstmaligen umfassenden Auswertung von Quellenbeständen der US-Armee, deren Brisanz daran ersichtlich wird, dass sie seit einigen Jahren zum Teil wieder gesperrt sind. Greiners Umgang mit seinen Quellen ist in jederzeit kritisch und differenziert. So weist er ausdrücklich darauf hin, wenn für bestimmte Vorkommnisse die Quellenlage fragmentarisch ist. Er bleibt gegenüber den Zeugenaussagen der Vietnam Veterans against the War skeptisch, und er hütet sich vor einer Inflationierung der Opferzahlen, die jedoch auch bei vorsichtiger Zählung mehrere Zehntausend betragen haben müssen. Der Autor verschweigt keineswegs die Gräueltaten des Vietcong an US-Soldaten und südvietnamesischen "Kollaborateuren" und lässt nicht unerwähnt, dass sich nicht alle amerikanischen Soldaten am Morden beteiligten und einige sich ihm sogar in den Weg stellten, wie beispielsweise der Hubschrauberkommandant Hugh Thompson, der in My Lai drohte, das Feuer auf seine Kameraden zu eröffnen. Zudem ist auffällig, wie Greiner geradezu peinlich alle historischen Analogien vermeidet, etwa zu den Verbrechen der deutschen Wehrmacht, die in der zeitgenössischen amerikanischen Diskussion ja durchaus gezogen wurden, und sich jeden Hinweis auf Parallelen zum gegenwärtigen Irakkrieg versagt, auch wenn der Leser selbst diese unwillkürlich zieht.
Im Zentrum von Krieg ohne Fronten steht nicht die Anklage, sondern die Analyse der Ursachen und Voraussetzungen der amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam. Greiner begnügt sich nicht mit der Erklärung, dass der Krieg und insbesondere der asymmetrische Guerillakrieg unvermeidlich zur Brutalisierung und Enthemmung "ganz normaler Männer" führe, sondern verknüpft diese Faktoren mit den ideologischen Obsessionen des Kalten Krieges, den institutionellen Defiziten der US-Armee und den mentalen und kulturellen Dispositionen der Soldaten. Die methodische Stärke der Studie liegt darin, dass sie die Logik des Militärischen ernst nimmt und auf allen Hierarchieebenen konsequent durchdekliniert. Die mörderische Strategie des "body count", also der Zählung getöteter Feinde als Maßstab militärischen Erfolges, wurde von der politischen und militärischen Führung vorgegeben, die einen Gegner, der mit herkömmlichen Mitteln nicht zu besiegen war, durch einen Abnutzungskrieg zum Aufgeben zwingen wollte. Dass damit quasi ein Blankoscheck zum wahllosen Töten ausgestellt wurde, beunruhigte selbst hohe Militärs. Beförderung, Orden und Prestige hingen davon ab, wie viele tote Feinde eine Einheit für sich reklamieren konnte. Routinemäßig wurde nahezu jede männliche oder weibliche Leiche jenseits des Kleinkindalters als Vietcong gezählt, selbst wenn man bei ihnen kaum Waffen erbeutete. Die schlecht ausgebildeten, unmotivierten und vor allem an ihrer weiteren Karriere interessierten Offiziere sahen kaum Veranlassung, ihre Einheiten zur Beachtung der Einsatzregeln anzuhalten, sondern leisteten der Brutalisierung häufig sogar Vorschub. So kann Greiner plausibel belegen, dass in My Lai die Offiziere mehr oder weniger unverhohlen anordneten, auch Frauen und Kinder zu töten. Der Autor entlässt die Täter vor Ort keineswegs aus der Verantwortung. Aber er zeigt eindringlich und nicht ohne eine gewisse Empathie, wie die explosive Mischung aus Angst, Frustration, Korpsgeist, Wut, Rachelust, Machtwahn und Ohnmacht, Hass und Selbsthass zur Radikalisierung der Soldaten und zur hemmungslosen Grausamkeit gegenüber Zivilisten führte.
Wie kaum anders zu erwarten, verlief die strafrechtliche Aufarbeitung weitgehend im Sande. Für My Lai wurde allein Leutnant William Calley zum Sündenbock gemacht, und auch er wurde bald begnadigt. Das Bestreben, die Verbrechen der eigenen Soldaten zu vertuschen, konnte sich nicht nur auf juristisches Finassieren bei der Interpretation des Kriegsvölkerrechts und des amerikanischen Militärstrafrechts, sondern darüber hinaus auf eine breite Solidarierung mit den Mördern in der amerikanischen Bevölkerung stützen, die mehrheitlich darauf konditioniert war (und ist), in US-Soldaten nichts anderes als Helden zu sehen. Greiner weist in diesem Zusammenhang auf einen großen Quellenbestand an Eingaben und "Fanpost" hin, der Grundlage einer kulturgeschichtlichen Aufarbeitung des Krieges sein müsse, an die er sich als Nächstes machen werde. Man darf gespannt sein.
Wenn es aus Sicht des Rezensenten an diesem Buch etwas zu bemängeln gibt, dann vielleicht, dass der Autor rassistische Dispositionen der US-Soldaten gegenüber der vietnamesischen Bevölkerung seltsam unterbelichtet lässt. Auch könnte man monieren, dass die Opfer in diesem Buch so gut wie nicht zu Wort kommen und weitgehend gesichtslos bleiben. Aber das wäre ein anderes Buch, für das, wie Greiner eingangs feststellt, die Quellen und in Vietnam selbst offenbar auch das Interesse fehlen. Krieg ohne Fronten ist ein Buch über Täter und leistet mit diesem Fokus einen bedeutenden Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte des Vietnamkrieges, die möglichst bald durch eine englische Übersetzung auch US-Historikern zugänglich gemacht werden sollte. Wer im Übrigen vergessen hat, warum der Protest gegen diesen Krieg politisch und moralisch gerechtfertigt war, kann sein Gedächtnis durch die Lektüre dieses Buches auffrischen.
Manfred Berg