Claudia Denk / John Ziesemer (Hgg.): Der bürgerliche Tod. Städtische Bestattungskultur von der Aufklärung bis zum frühen 20. Jahrhundert (= ICOMOS - Hefte des Deutschen Nationalkomitees; XLIV), Regensburg: Schnell & Steiner 2007, 239 S., ISBN 978-3-7954-1946-2, EUR 49,90
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Das 19. Jahrhundert hat die europäische Gesellschaft nachhaltig verändert. Die Auswirkungen der französischen Revolution, aber vor allem die industrielle Revolution brachten die überkommenen gesellschaftlichen Strukturen durcheinander und setzten an die Seite der Adelsgesellschaft ein Groß- und Kleinbürgertum, das mit ersteren um öffentliche Anerkennung und Repräsentanz konkurrierte. Orte, an denen diese Entwicklung besonders gut nachgespürt werden kann, sind die Friedhöfe. In der Form, wie sie uns seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert begegnen, haben sie sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts von als Kinder der Aufklärung, aus Hygienegründen außerhalb der alten Städte und Kirchen angelegten Anlagen zu zentralen Orten vor allem bürgerlicher Selbstdarstellung weiterentwickelt. Mit immer aufwändigeren Grabanlagen wollte man seinen Rang bestätigen, eine Entwicklung, die erst durch Friedhofsreform und den Niedergang der bürgerlichen Kultur im frühen 20. Jahrhundert weitgehend ein Ende finden sollte.
Erst seit relativ kurzer Zeit wird der Friedhof des 19. Jahrhunderts von Geschichte, Kunstgeschichte und Denkmalpflege als wertvolles Zeugnis der Vergangenheit und (Kunst-) Geschichtsquelle wahrgenommen, einhergehend mit der allgemeinen Wiederentdeckung aller Spielarten des Historismus. Insofern war es sehr zu begrüßen, dass das Deutsche Nationalkomitee von ICOMOS (= der internationale Rat für Denkmalpflege der UNESCO) im November 2005 zu einer breit angelegten interdisziplinären Tagung zu dem Thema lud, mit dem Ziel, den momentanen Stand der Forschung darzulegen und zusammenzufassen. Mit dem vorliegenden Band liegen nun fast alle Vorträge der genannten Tagung vor. Lediglich vier der gehaltenen Vorträge sind nicht vertreten.
Die 27 Beiträge lassen sich in sieben Komplexe einteilen, die auch schon der Einteilung während der Tagung entspricht.
Der Bereich "Reform- und Wandlungsprozesse in der Friedhofskultur" bietet neben einem geschichtlichen Abriss von Reiner Sörries (8-10) beschreibende Beiträge zur Friedhofsentwicklung in Großbritannien (Julie Rugg, 11-16), jüdischen Sepulkral-Kultur (Thomas Blisniewski, 17-23), zu den Friedhofsreformen am Beginn des 20. Jahrhunderts (Barbara Happe, 24-34) und schließlich den eher schöngeistigen Beitrag von Richard A. Etlin zum Wandel der Einstellung zu Tod und Begräbnis im 19. Jahrhundert (35-45); vor allem letzterer, der auf dem öffentlichen Abendvortrag der Tagung basiert, vermag mit bestechender Brillanz aufzuzeigen, inwiefern Sepulkral- und Memorialarchitektur zwischen dem Zeitalter der Aufklärung und heute immer auch ein Spiegelbild der Wertevorstellungen und der Psychologie ihrer Zeit sind, von den düsteren Lichtvisionen in den Entwürfen eines Étienne-Louis Boullée im ausgehenden 18. Jahrhundert bis zu den Erinnerungsmalen in Treblinka (1964) oder für die Gefallenen des Vietnamkrieges (1982). Trotz der auch hier gegebenen Kürze handelt es sich um den besten Beitrag des Bandes.
Der Komplex "Der Friedhof als Ort nationaler und städtischer Repräsentation" wartet mit Fallbeispielen aus München (Claudia Denk, 46-59), Mailand (Ornella Selvafolta, 60-68), Bologna (Andreas Morpurgo, 69-74), Slowenien (Sonja Žitko, 75-80), Finnland (Liisa Lindgren, 81-87) und Istanbul (Hans-Peter Laqueur, 88-94) auf. Vor allem der Beitrag Denks zur Erweiterung des Alten Südlichen Friedhofs in München durch Friedrich von Gärtner ist hier hervorzuheben, da er bei aller geforderter Kürze Planungs-, Architektur-, Mentalitäts- und Nutzungsgeschichte des Ortes (vor allem in Bezug auf die Gräber in den ehemaligen Arkaden-Gängen) gelungen miteinander zu verknüpfen versteht. Aber auch die Entwicklung in Istanbul, die die historische Entwicklung des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert widerspiegelt, verdient Interesse, zeigt sie doch zumindest für diesen Ort deutlich die europäischen Einflussnahme auf die bis dahin eigenständige osmanische Sepulkral-Kultur im Verlauf des 19. Jahrhunderts.
Die drei Beiträge zum Friedhof als Bauaufgabe in Deutschland und Österreich (John Ziesemer, 95-105), zu Zink in der Sepulkral-Kultur in Europa und den USA (Sabine Hierath, 106-114) und zur Rolle der Galvano-Plastik in der bürgerlichen Grabmalkultur (Norbert Fischer, 115-121), die unter dem Oberbegriff "Produktionsästhetische und ikonografische Aspekte" zusammengefasst werden, bieten vor allem zahlreiche Beispiele zu diesen ansonsten eher wenig erforschten Bereichen.
Ebenfalls drei Beiträge umfasst der Komplex "Romantische Natursehnsucht - Das Grab in der Natur". Neben den Beiträgen zum Landschaftsgarten als Bestattungsort um 1800 (Sascha Winter, 132-143) und die privatwirtschaftliche Organisation des Friedhofs von York (Susan Buckham, 144-152) sei hier besonders auf die Darstellung des Pariser "Jardin Elysée" von Alexandre Lenoir (1796-1816) hingewiesen, dessen Struktur und Aufbau ein wichtiger Vorläufer der europäischen Friedhöfe des 19. Jahrhunderts war (Ulrich Rehm, 122-131). Denn vor allem in der deutschen Literatur ist die Vorbildfunktion dieser Anlage bisher noch zu wenig beachtet worden.
Zum Bereich "Der Friedhof als Verwitterungslabor - Naturwissenschaftliche und restauratorische Problemstellungen" wird neben einer besonders informativen Einführung in die Problematik anhand Münchener Beispielen (Wolf-Dieter Grimm, 153-169) vor allem (material-)technisches Spezialwissen geboten: Sei es zur Verwitterung und Konservierung von Marmor (Rolf Snethlage, 170-174), zur Restaurierung eines Kindergrabmals in Basel (Hans Ertl, Michael Pfanner, Holger Clauß, 175-182) und zu einem Restaurierungsprojekt auf dem Montmartre-Friedhof in Paris (Hugues de Bazelaire, Claire Piffaut, 183-189). Gerade auch für den geisteswissenschaftlichen Leser, der üblicherweise wenig mit den Naturwissenschaften zu tun hat, können sie Hinweise auf Methoden und Ansätze bieten, die ihm sonst verschlossen blieben.
In die Gegenwart führen die Beiträge zum Thema "Die Betreuung historischer Friedhöfe durch staatliche, städtische und private Institutionen", die Geschäftsmodelle für Friedhöfe in Wallonien (Xavier Deflorenne, 190-193), Berlin (Dennis Bilbrey, 208-214) und den Friedhöfen von Staglieno bei Genua (Clavio Romani, 194-199) und Bornstedt in Potsdam (Gabriele Horn, 199-207) vorstellen. Es steht freilich zu befürchten, dass die Beiträge schon jetzt nicht mehr unbedingt aktuell sein dürften.
Schließlich werden zum Komplex "Inventarisation und Erfassung" die beispielhaften Inventarisierungen von Grabmalen in Luzern (Rainer Knauf, 215-223) und Gartendenkmälern Dresdener Friedhöfe (Sabine Webersinke, 224-233) vorgestellt. Sie runden die vorhergehenden Beiträge durchaus ab, auch wenn sie, thematisch gesehen, eigentlich an den Anfang jeder Beschäftigung mit dem Komplex "Friedhof" gehören. Es wäre aber durchaus wünschenswert gewesen, in ihnen jeweils intensiver auf die genaue Datenerfassung einzugehen (etwa Auflistung der Datenfelder usw.).
Insgesamt ist die Qualität aller Beiträge als hoch, lediglich einige wenige (zu nennen wären hier die Beiträge von Selvafolta, Morpurgo, Bazelaire/Piffaut und Romani) sind zu deskriptiv geraten. Allgemein scheinen fast alle Beiträge zu kurz; doch ist die Kürze der Beiträge auch ein Gewinn, denn er führt zu einer Informationsverdichtung, die in Verbindung mit der hohen Anzahl der Beiträge zu überzeugen vermag.
Aus der Gesamtheit der Beiträge wächst das Gesamtbild des (vor allem europäischen) Friedhofs im 19. Jahrhundert als Spiegelbild seiner bürgerlichen Gesellschaft. Seine Anlagen, Bauten und Denkmäler sind, ebenso wie die ihrer Gegner in Gestalt der Friedhofsreformer an der Wende zum 20. Jahrhundert, allein aus der Mentalität seiner Auftraggeber und Benutzer zu verstehen. Gerade durch die Vielzahl seiner Beiträge aus unterschiedlichsten Blickwinkeln gelingt es dem vorliegenden Band, sich der Heterogenität seines Stoffes adäquat zu nähern. Dass dabei inschriftenkundliche Beiträge völlig fehlen und statt dessen Kunstgeschichte und Denkmalpflege gegenüber Sozial- und Mentalitätsgeschichte dominieren, schmälert aber keinesfalls den positiven Gesamteindruck des Bandes.
Friedrich Ulf Röhrer-Ertl