Claudia Denk / John Ziesemer: Kunst und Memoria. Der Alte Südliche Friedhof in München, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014, 543 S., 675 Farbabb., ISBN 978-3-422-07227-5, EUR 49,90
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In den letzten Jahren erschien eine Reihe von Monografien und Sammelbänden zum Thema Tod und Memoria. Beispielhaft sei auf die Forschungen des 2001 begonnenen Berliner "Requiem"-Projektes verwiesen. [1] Sie gehören in den Kontext eines gewachsenen Interesses an unterschiedlichen Mustern der Memorialkultur. Es ist seit den Studien von Pierre Nora über Erinnerungsorte sowie Jan Assmann über das kulturelle bzw. kommunikative Gedächtnis zu beobachten. Jan Assmann stellte fest, dass der Tod eine "'Urszene' der Erinnerungskultur" sei. [2]
In diesem Zusammenhang bilden Friedhöfe einen höchst verdichteten Raum der Erinnerungskultur. Ihre Erforschung hat seit den 1980er-Jahren erheblichen Aufschwung genommen, sodass seit einiger Zeit auch Überblicksdarstellungen vorliegen. [3] Gleichwohl haben die weitaus meisten Studien zur Friedhofsgeschichte lokalen Bezug. Teils verwoben mit der Geschichte der Friedhöfe ist jene der Grabmäler. In neueren Studien werden sie unter sozial- und kulturhistorischen Aspekten als Ausdruck gesellschaftlicher Repräsentationen und Verwerfungen analysiert. [4]
In diesen Forschungskontext gehört auch das hier vorliegende voluminöse Werk über den Südlichen Friedhof in München (heute Alter Südlicher Friedhof). Er zählt zu den bedeutendsten europäischen Friedhöfen und ist seit 1979 in die Denkmalliste der Stadt München eingetragen. Im Zuge von Aufklärung, Reform und Bevölkerungswachstum war es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in vielen Städten zur Anlage außerstädtischer Friedhöfe gekommen. Sie lösten die Kirchen- bzw. Kirchhofsbestattungen ab. Zugleich waren sie meist verbunden mit einer zunehmend an hygienischen Kriterien orientierten und durch Bestattungsreglements geordneten Belegungspraxis. In München wurde der Südliche Friedhof 1788/89 als erster zentraler und außerstädtischer Begräbnisplatz angelegt. Seine Besonderheit liegt zunächst darin, dass er nicht kirchlich, sondern staatlich, ab 1818 kommunal verwaltet wurde. Zugleich aber - und das begründet seine herausragende Bedeutung - ist die Entwicklung des Südlichen Friedhofs eng verknüpft mit dem Weg Münchens von einer "provinziellen Residenzstadt zu einer das neue Königreich repräsentierenden Hauptstadt" (22). Dabei wurde er - vorangetrieben von Ludwig I. - zu einer König und Stadt zugleich repräsentierenden Gedächtnislandschaft, an deren Gestaltung namhafte Bildhauer und Architekten mitwirkten. Neben der repräsentativen Architektur des Friedhofs entstanden zahlreiche kunsthistorisch bedeutsame Grabmäler (u.a. für Justus von Liebig und Joseph Görres). Auf diesem Weg entwickelte sich der Südfriedhof zum "erste[n] öffentliche[n] Gedenkort der bayerischen Haupt- und Residenzstadt" (44).
Die beiden Kunsthistoriker Claudia Denk und John Ziesemer beschreiben zunächst Vorgeschichte und Anfänge des Friedhofes im späten 18. Jahrhundert. Aufgrund der Loslösung der Bestattungen von den Pfarreien diente der Südliche Friedhof von Anfang an beiden Konfessionen. München gewann damit im Bestattungswesen unter deutschen Städten eine Pionierfunktion. Selbst nach der Übergabe des Friedhofs an die städtische Verwaltung 1818 blieb die Planungshoheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf staatlich-königlicher Seite.
Das zweite Hauptkapitel widmet sich der Planungs- und Baugeschichte des Südlichen Friedhofes im 19. Jahrhundert unter Leitung von Gustav Vorherr und Friedrich von Gärtner. Sie sind bedeutende Beispiele für die auf deutschen Friedhöfen nicht häufig anzutreffende, vielmehr aus dem mediterranen Raum bekannte sogenannte Camposanto-Architektur. Die erste Erweiterung von 1817 unter Vorherr gab der Anlage die Gestalt eines Keils, der mit einem durch Arkaden verblendeten Halbrund abschloss. Der geschützte Bereich unter den Arkaden war für kostspielige, witterungsanfällige Monumente reserviert. Auch an der hohen Umfassungsmauer konnten aufwändige Familiengrabstätten platziert werden, deren herausragender Charakter dadurch weithin sichtbar wurde. Die von Friedrich von Gärtner, dem Hofarchitekten Ludwig I. und Direktor der Münchener Akademie, konzipierte zweite Erweiterung ab 1844 führte zum allseitig-rechteckigen, idealtypischen Ausbau im Camposanto-Stil. Die Arkaden wurden zu einer Galerie sepulkraler Symbole für Macht und Reichtum, Bildung und Ansehen. Architektur und privilegierte Grabdenkmäler waren aufeinander bezogen und bildeten Blickfänge.
Die folgenden Abschnitte des Werkes behandeln die Grabstättenkultur. Unter dem titelgebenden Leitmotiv "Kunst und Memoria" wird die Bedeutung der Grabmäler für spezielle Formen gesellschaftlicher Repräsentation in der "Kunststadt München" analysiert. Auf dem Münchener Südfriedhof war die mit reichem ornamentalem Dekor versehene Stele eine verbreitete Grabmalform. Die speziell auf die Topografie des Alten Südlichen Friedhofs abgestimmten Grabmalentwürfe, die ausgewählten Gesteine, die Frage der (flüchtigen) Farbigkeit werden in eigenen Abschnitten behandelt. Eine besondere Bedeutung kommt - nicht zuletzt aus interdisziplinärer Perspektive - der Materialästhetik zu. Der Memoria-Gedanke, die davon abgeleiteten Ewigkeitsvorstellungen und deren gesellschaftliche Repräsentativität fanden in der gezielten Auswahl bestimmter Materialien ihren Niederschlag. Hier konnte die Zusammenarbeit der beiden Verfasser mit der TU München (Lehrstuhl für Restaurierung, Kunsttechnologie und Konservierungswissenschaften) neue Erkenntnisse über die Herstellung und Fassung von Grabmälern wie auch deren Konservierung gewonnen werden. Die vielfach in den Quellen aufgefundenen künstlerischen Entwürfe für Grabmäler auf dem Südlichen Friedhof bieten neue Einblicke in deren Entstehungsgeschichte.
Dem Textteil folgt ein Katalog ausgewählter Grabstätten aus dem alten (201-409) und neuen Teil (411-497) des Friedhofs. Er umfasst für jede inventarisierte Grabstätte detaillierte Angaben über Auftraggeber, Form, Material, Größe, Inschriften etc. Anschließend werden Geschichte und Bedeutung erläutert, bevor Aussagen über den Erhaltenszustand, zugehörige Archivalien sowie Literatur und ggf. Reproduktionen aufgelistet werden. Angeschlossen ist ein Verzeichnis aller für den Alten Südlichen Friedhof tätigen Architekten, Bildhauer, Gießer, Maler und Steinmetzen sowie ein beigelegter Friedhofsplan. Mit diesem Inventar liegt nun für einen weiteren bedeutenden europäischen Friedhof eine umfassende sepulkralhistorische Bestandsaufnahme vor.
Das zu besprechende Werk beruht auf einem der umfangreichsten Projekte zu einem Einzelfriedhof, das in Deutschland in den letzten Jahrzehnten durchgeführt wurde. Das Projekt begann mit der Inventarisierung und Dokumentation der über 5000 erhaltenen Grabstätten (2003-2007). In einem zweiten Schritt wurde der Bestand kontextualisiert und die Grundlage für den hier vorliegenden Band gelegt. Dies umfasste unter anderem umfangreiche Recherchen im Stadtarchiv München. Damit kann das Münchener Projekt anknüpfen an das 1980 begonnene erste große Friedhofsforschungsprojekt in Deutschland zum Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf. [5] Darüber hinaus reiht sich das Werk - wie auch der programmatische Titel "Kunst und Memoria" zeigt - in die neueren Forschungen zur Gedächtniskultur ein. In der Einbettung des Friedhofs und seiner Grabstätten in sozial-, politik-, wirtschafts- sowie kultur- bzw. kunstgeschichtliche Entwicklungen analysieren Claudia Denk und John Ziesemer die vielfältigen Muster urbaner Repräsentationspolitik im bürgerlichen Zeitalter. Insgesamt zeigt sich das hervorragend ausgestattete und reichhaltig illustrierte Werk als ein Meilenstein in der Sozial- und Kulturgeschichte der Friedhöfe. Erstmals ist ein bedeutsamer deutscher Friedhof nicht nur als Schatzkammer der Sepulkralkultur dokumentiert, sondern als Gedächtnislandschaft im Schnittpunkt unterschiedlicher Einflüsse und Entwicklungen analysiert worden.
Anmerkungen:
[1] Unter anderem Carolin Behrmann u.a. (Hgg.): Grab - Kult - Memoria. Studien zur gesellschaftlichen Funktion von Erinnerung, Köln / Weimar / Wien 2007.
[2] Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 33.
[3] Umfassend von den Anfängen bis heute: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal / Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur (Hgg.): Raum für Tote, Braunschweig 2003.
[4] Beispielhaft Anna-Maria Götz: Die Trauernde. Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauer, Köln / Weimar / Wien 2013.
[5] Barbara Leisner u.a.: Der Hamburger Hauptfriedhof Ohlsdorf. Geschichte und Grabmäler. Zwei Bände, Hamburg 1990.
Norbert Fischer