Wolfgang Reinhard / Justin Stagl (Hgg.): Menschen und Märkte. Studien zur historischen Wirtschaftsanthropologie (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V.; Bd. 9), Wien: Böhlau 2007, XXII + 502 S., ISBN 978-3-205-77299-6, EUR 59,00
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Die klassische ökonomische Theorie ist nicht gerade bekannt dafür, anthropologischen Momenten viel Raum einzuräumen. Ganz im Gegenteil: Nach neoliberaler Lesart organisieren sich Märkte "von selbst" und die Akteure agieren, fernab jeglicher Emotion, uneingeschränkt rational. Die klassische und neoklassische Ökonomie hat das Marktgeschehen primär als Austausch quantifizierbarer Produktionsfaktoren modelliert, der vom Preismechanismus der "unsichtbaren Hand" und von individuellen Nutzenkalkülen der Akteure gesteuert wird. Ausgehend von der Prämisse der vollständig informierten Marktteilnehmer wird das marktinhärente Problem der Informationsmängel ebenso negiert wie menschliche Ermessensspielräume, Präferenzen und emotionale Vorbehalte oder Vorlieben, die die Theorie allenfalls unter unbestimmbare Residualfaktoren fasst.
In der Empirie produzieren Märkte hingegen Unsicherheit, die für ökonomische Akteure erhebliche Risiken darstellen können. Daher wird die Bedeutung von anthropologischen Merkmalen wie z.B. von Vertrauen in den Erfolg wirtschaftlicher Transaktionen heute in der Soziologie, in Teilen der ökonomischen Forschung wie auch in jüngeren wirtschaftshistorischen Studien betont. Sie unterstreichen, dass die stark formalisierte ökonomische Theorie, die von perfekten, sich selbst regulierenden Märkten und allwissenden, rational agierenden Akteuren ausgeht, die Realität nicht angemessen abzubilden vermag. Dennoch hat ähnlich wie die Wirtschaftswissenschaften auch die Wirtschaftsgeschichte um anthropologische Größen lange einen Bogen gemacht. Möglicherweise verunsichert durch Hans Ulrich Wehlers Verdammung der "Psychohistorie" in den frühen 1980er Jahren, profitiert die historische Anthropologie erst seit Kurzem von dem 'Hype' um die Kulturgeschichte.
Nachdem die Entfremdung zwischen der Wirtschafts- und Kulturgeschichte in der jüngsten Zeit vermehrt Gegenstand der Diskussion gewesen ist, schlägt der anzuzeigende Tagungsband, eine Veröffentlichung des Freiburger Instituts für historische Anthropologie, ebenfalls eine Brücke zwischen zwei scheinbar unvereinbar gegenüberstehenden Polen. Dazu bedient er sich eines breiten zeitlichen wie interdisziplinären Bogens. Um den ökonomischen Akteur "als [...] durch die Kulturen geformte[s] [...] Wesen" (Vorwort) zu untersuchen, stellt der Band dem rational choice-Modell der Ökonomie einen kulturell vergleichenden Ansatz gegenüber, der davon ausgeht, "dass die Menschen in ihren Sprachen, Symbolen, Ritualen, Verhaltensweisen und Wahrnehmungsformen flexible Kulturwesen sind" (ebd.).
Vertreten sind in dem mit Personen-, Orts- und Sachregister versehenen Band nicht nur Althistoriker, Ethnologen und Soziologen, sondern ebenso Kulturwissenschaftler, Wirtschafts- und Mikrohistoriker wie auch Ökonomen. Die Beiträge, von denen hier einige beispielhaft vorgestellt werden sollen, begründen die wenig aussagekräftige Rubrizierung des Bandes in "Grundlagen und Grundfragen", "Altertum und Orient", "Vom europäischen Mittelalter zur Moderne" sowie "Diskurse der Gegenwart". Unter der Eingangsrubrik liefert der Freiburger Frühneuzeit-Historiker Wolfgang Reinhard eine kurze Einführung in die historische Wirtschaftsanthropologie, deren Umfang mit knapp neun Seiten die allzu geringe Relevanz des Betrachtungsgegenstandes zu unterstreichen scheint (vgl. auch die Einschätzung von Wolfgang Fikentscher im selben Band, 373). Reinhard konzentriert sich in seinen Ausführungen vor allem auf die Diskurse um Modernität und kulturellen Vergleich. Wenig Neues, so könnte man meinen, und in der Tat wird dieser Eindruck auch durch den einen oder anderen Beitrag bestätigt.
Während der Ethnologe Klaus E. Müller sich mit dem sich wandelnden Verständnis von Arbeit befasst, untersucht der Soziologe Axel T. Paul unter geldtheoretischer Prämisse den Wandel der Geldwirtschaft. Die Beiträge zur Wirtschaftsanthropologie in Altertum und Orient konzentrieren sich dagegen auf die religiösen Momente im Wirtschaftsverhalten, das der Indologe und Religionswissenschafter Heinrich von Stietencron am Beispiel des 3. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts untersucht. Daran schließt sich Raimund Kolb mit seinen Untersuchungen zur Ökonomie des organisierten Bettels am Beispiel von Peking im 19. und 20. Jahrhundert an. Roswitha Badry überprüft in ihrem Beitrag zur islamischen Ökonomik die Vereinbarkeit zwischen religiösen Wertvorstellungen des Islam und kapitalistischen Zielsetzungen. Sie knüpft damit an eine hochaktuelle Diskussion in der BWL an.
Den Bogen zur europäischen Entwicklung schlägt der Wiener Wirtschaftshistoriker Michael Mitterauer mit einem Beitrag über den frühen Protokolonialismus der Pisaner Kaufleuterepublik, der gleichfalls u.a. auf religiöse Implikationen eingeht. Der Frankfurter Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe ordnet die Entstehung des Homo oeconomicus als ein von "Eigennutz geleiteter Akteur" in den im 16. Jahrhundert einsetzenden sozio-ökonomischen Strukturwandel ein. Mit dem modernen "Ökonomismus" setzen sich die Ökonomen Gebhard Kirchgässner, Gerold Blümle und Nils Goldschmidt auseinander, während der Linguist Uwe Pörksen die Expansion der Wirtschaftssprache auf das Prestige zurückführt, das Wirtschaft heute besitze.
Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis macht deutlich, warum die historische Wirtschaftsanthropologie bislang als eigenständige Subdisziplin ohne Bedeutung geblieben ist. Fragen der Wirtschaftskulturen und -stile, transnationaler Wirtschaftsaktivitäten, der Arbeitsauffassung oder der Genese von Tausch- und Geldwirtschaft bilden seit Langem einen festen Bestandteil der Wirtschaftsgeschichte, so dass sich hier z.T. eine Art 'Déjà-vu'-Empfindung einstellt. Zentrale wirtschaftsanthropologische Aspekte von hoher aktueller Bedeutung, die leider auch in der Wirtschaftsgeschichte bislang lediglich am Rande diskutiert wurden, wie z.B. die Bedeutung der Frau als ökonomischer Akteurin, kommen nun ausgerechnet auch in diesem Band zu kurz, weil "keine Referentinnen oder Referenten für die [...] selbständig wirtschaftende Frau in Geschichte und Gegenwart gewonnen werden" konnten (so die Herausgeber in ihrem Vorwort, XXII). Ähnliches gilt für innovative Forschungsansätze wie Ute Freverts Arbeiten zur Geschichte der Gefühle, die sich gleichfalls auf wirtschaftliche Zusammenhänge übertragen lassen. Anlass genug, um an diesen informativen Band, dem leider ein Autorenverzeichnis fehlt, anzuknüpfen, denn zweifelsohne verdient die historische Wirtschaftsanthropologie einen angemessenen Platz unter den Subdisziplinen des historischen Fächerkanons.
Susanne Hilger