Ilsabe von Bülow: Joseph Christian Lillie (1760-1827). Ein Architektenleben in Norddeutschland, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2007, 247 S., 139 Abb., ISBN 978-3-422-06610-6, EUR 58,00
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Die Monografie über den aus Kopenhagen stammenden Möbeltischler und Architekten Joseph Christian Lillie entstand als Forschungsarbeit an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Im Zentrum stehen die Bauten und Innendekorationen der zweiten, Lübecker Schaffensphase von 1802 bis 1827. Während über den dänischen Architekten Christian Frederik Hansen bereits mehrere große Arbeiten erschienen sind, wurde das architektonische Werk seines Kommilitonen und Kollegen Lillie nur in einzelnen Aufsätzen behandelt. Die erste, grundlegende Untersuchung lieferte Joachim von Welck mit seiner 1931 vorgelegten Dissertation, die 1935 und 1936 in gekürzter Form veröffentlicht wurde [1] und auf die sich von Bülow in ihrer Darstellung der frühen Kopenhagener Jahre bezieht. Zuletzt publizierte Gerhard Hirschfeld im 2003 erschienenen Sammelband "Christian Frederik Hansen und die Architektur um 1800" einen knappen Überblick über Lillies architektonisches Werk. [2]
Ziel der vorliegenden Monografie war eine umfassende Würdigung des gesamten architektonischen Schaffens, das bis heute wenig bekannt und, wie die Autorin hervorhebt, in seiner Bedeutung unterschätzt ist. Die chronologisch aufgebaute Arbeit stellt Lillies Werk in einer Abfolge von Einzeluntersuchungen vor, ergänzt durch ein listenartiges Werkverzeichnis der insgesamt 43 behandelten Entwürfe und Neubauten. Anhand einzelner Lebensstationen oder Werkgruppen ergeben sich acht Großkapitel sowie ein weiteres Kapitel über die abgeschriebenen Arbeiten; im letzten Kapitel erfolgt eine zusammenfassende Charakterisierung von Lillies Architektur. Grundlage der Forschungsarbeit waren Recherchen in deutschen und dänischen Archiven einschließlich mehrerer Familienarchive, darunter das Gutsarchiv von Gudow mit zahlreichen Plänen und der umfangreichen Korrespondenz zwischen dem Bauherren und seinem Architekten.
Lillies Karriere begann in Kopenhagen, wo er bereits als 13-Jähriger die Königliche Akademie besuchte und 1779 seine Ausbildung mit der Verleihung der Großen Goldmedaille abschloss. Als Inspektor des königlichen Möbelmagazins und königlicher Hofdekorateur erhielt er nicht nur attraktive Aufträge des Königshauses, sondern prägte auch den dänischen Möbelstil seiner Zeit. Aufgrund von Konkursschulden floh Lillie 1799 in die reichsfreie Hansestadt Lübeck, die ihm bis zu seinem Tod eine neue Heimat bot. Unterstützung fand er bei seinem früheren Studienkollegen, dem holsteinischen Landbaumeister C. F. Hansen. Obwohl dieser in königlich-dänischen Diensten stand, war er mit Privataufträgen auch außerhalb des dänischen Gesamtstaates tätig und konnte Lillie so als "Baukondukteur" bei zwei seiner Herrenhausbauten vermitteln. Während Lillie in Dänemark allein Möbelentwürfe und Innenausstattungen geschaffen hatte, arbeitete er nun als selbständiger Architekt, einige Monate auch als Stadtbaumeister von Lübeck. Alle seine Bauten befinden sich außerhalb des dänischen Staatsgebiets in der Reichsstadt und dem Fürstentum Lübeck sowie in den benachbarten Herzogtümern Mecklenburg-Schwerin und Lauenburg.
Ein Hauptwerk von Lillie und mit über 30 Buchseiten Schwerpunkt der Arbeit ist das Herrenhaus auf Gut Gudow im Herzogtum Lauenburg (1824-28), das auf Initiative von Adolph Gottlieb von Bülow, Erblandmarschall und königlich dänischer Kammerherr, errichtet wurde. Eine Besonderheit dieses Gebäudes bildet neben der architektonischen Qualität und dem guten Erhaltungszustand die umfangreiche Quellenlage, die eine detaillierte Rekonstruktion der Bauplanung und des Baufortgangs einschließlich des Transports der Baumaterialien und der Baukosten erlaubte. Der Erkenntniswert dieser Quellenstudie ist für Lillies Gesamtwerk jedoch eher gering: So bleibt aufgrund fehlender Vergleiche offen, ob Lillie mit anderen Bauherren ebenso weitreichende Diskussionen über Dach- und Gebäudeform führte und ob beispielsweise die Anfertigung von Fenstermodellen zu dieser Zeit üblich war oder aber eine Besonderheit von Lillies Arbeitsweise bildete. Auch die Charakterisierung des Gebäudes fällt gemessen an der herausgehobenen Stellung und Komplexität des Baus knapp aus. Interessant wäre hier eine eingehendere Diskussion der zum Teil widersprüchlichen oder mehrdeutigen gestalterischen Lösungen gewesen.
Die Einzelanalysen der Bauten und Entwürfe liefern eine Zusammenfassung des bisherigen Kenntnisstandes, ergänzt durch zahlreiche neue Informationen. Dies betrifft Fragen der Zuschreibung, Datierung und Bauherrenschaft und - was als besondere Qualität des Buches zu werten ist - die Geschichte der Bauten einschließlich der Veränderungen und ihres aktuellen Erhaltungszustandes. Ein Anliegen der Autorin bestand darin, Lillies Tätigkeit im konkreten historischen Umfeld darzustellen. Hervorzuheben ist hier der informative Überblick über das Lübecker Bauwesen um 1800 einschließlich der 1795 gegründeten "Freyen Zeichenschule", an der Lillie von 1804 bis zu seinem Tod als Dozent tätig war.
Der abschließenden Charakterisierung und Bewertung von Lillies Werk wird im Vergleich zu den detaillierten Einzelanalysen weniger Raum zugemessen, dennoch sind hier mit die wichtigsten Aussagen zu finden. Die zahlreichen, rein stilistischen Zuschreibungen und das heterogene Erscheinungsbild der Bauten machen es schwierig, Lillies Arbeiten als geschlossenes architektonisches Werk zu fassen - dieses dennoch zu versuchen, ist als ein Verdienst des Buches zu werten. Bereits mit der Lindeschen Villa (1804) zeigt Lillie - trotz seiner Beeinflussung durch Hansen - eine individuelle Formensprache, die von Bülow bei allen Bauten und Entwürfen herausarbeitet. Ein Charakteristikum seiner Architektur bilden demnach die glatten Putzfassaden über rustiziertem Erdgeschoss, fein profilierte Oberflächen, stark ausgeprägte Attiken sowie einzelne immer wiederkehrende Motive wie Bandleisten, kannelierte Türrahmen, stuckierte Lünetten und Baluster unter den Sohlbänken; als Kennzeichen seiner Innenräume beschreibt von Bülow eine starke Differenzierung der Raumformen, reiche Dekorationen mit illusionistischen Wandmalereien und Stuckimitationen sowie die Vorliebe für Rundbogennischen und eingestellte Säulen.
Entsprechend der älteren Forschung wird Lillie als Vertreter des dänischen Klassizismus charakterisiert, der den Kopenhagener Baustil in Lübeck etabliert und auf Lauenburg und Mecklenburg-Schwerin ausgedehnt habe (128, 214). Aufschlussreich hierfür sind die Vergleiche mit der Architektur seines Lehrers Caspar Frederik Harsdorff, seines Kommilitonen Hansen und seines Kollegen Johan August Arens, der ebenfalls in Kopenhagen studiert hatte und außerhalb des dänischen Gesamtstaates tätig war. Angesichts der These, Lillie habe den dänischen Klassizismus in Lübeck etabliert, erscheinen die Aussagen, er sei "einer der prägenden Baumeister im schleswig-holsteinischen Raum" gewesen (8) bzw. "der bedeutendste Baumeister des Klassizismus in Schleswig-Holstein und Westmecklenburg" (214) etwas verwirrend. Die Bezeichnung "Schleswig-Holstein" bezieht sich offenbar auf das heutige Bundesland (einschließlich der damaligen reichsfreien Hansestadt Lübeck und des Herzogtums Lauenburg), ohne zu berücksichtigen, dass Lillie in den Herzogtümern Schleswig und Holstein aufgrund seiner Flucht aus dem dänischen Gesamtstaat gerade nicht tätig gewesen war.
Einige Fragen mussten angesichts der Fülle der Themen offenbleiben und bieten Stoff für weitere Untersuchungen. Dies betrifft die Heterogenität von Lillies Werk sowie den auffallenden Widerspruch zwischen seinen eleganten, oft unorthodoxen Innendekorationen und einigen seiner Bauten, die - ähnlich Hansens Architektur - wuchtig und monumental wirken. Zu fragen wäre, ob Lillie hier nicht gezielt den Wünschen der Bauherren folgte, die Hansens Formensprache bevorzugten. Dazu passt auch die interessante Beobachtung von Bülows, wonach Bauherren in Westmecklenburg den dänisch geschulten Architekten Lillie gegenüber den von der Berliner Schule beeinflussten mecklenburgischen Regierungsbaumeistern bevorzugten.
Im Fokus der Publikation steht weniger eine Bewertung von Lillies Architektur im Kontext der zeitgenössischen Architektur als die Beschreibung der einzelnen Bauten und Entwürfe. Insgesamt liefert das Buch eine sehr gute Zusammenfassung der bisher nur verstreut in älteren Aufsätzen zugänglichen Informationen, ergänzt durch zahlreiche neue Erkenntnisse und die bis dahin vernachlässigte Baugeschichte samt Erhaltungszustand der Bauten. Damit liegt endlich eine aktuelle, der Bedeutung von Lillies Werk angemessene Monografie vor. Allerdings ist das Buch aufgrund der Abfolge von Einzelanalysen samt Auflistung der Besitzer und späterer Umbauten stellenweise schwer zu lesen. Eine Ausgliederung dieser Informationen in einen Werkkatalog hätte dem Textfluss gut getan.
Die schön aufgemachte Publikation besitzt zahlreiche qualitätvolle Abbildungen, ein großer Teil davon in Farbe. Natürlich könnte man sich immer noch mehr Abbildungen wünschen, so zu jedem Objekt Grundriss, Aufriss und eine Fotografie des ausgeführten Zustandes, dies hätte den Umfang des Buches jedoch gesprengt. Besonders schön sind die vielen aktuellen Aufnahmen, die einen Eindruck des Erhaltungszustandes, aber auch der Farbigkeit und der landschaftlichen Lage der Bauten bieten.
Anmerkungen:
[1] Joachim von Welck: Joseph Christian Lillie, ein dänischer Klassizist in Lübeck, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde XXVIII, Heft 1 (1935), 103-132 und Heft 2 (1936), 303-341.
[2] Gerhard Hirschfeld: Joseph Christian Lillie (1760-1827). Ein dänischer Klassizist in Lübeck, Lauenburg, Mecklenburg-Schwerin und Holstein, in: Christian Frederik Hansen und die Architektur um 1800, hg. von Ullrich Schwarz, München / Berlin 2003, 169-180.
Eva von Engelberg-Dočkal