Liselott Enders: Die Altmark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft in der Frühneuzeit (Ende des 15. bis Anfang des 19. Jahrhunderts) (= Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs; Bd. 56), Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2008, 1580 S., ISBN 978-3-8305-1504-3, EUR 79,00
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Seit Jahrzehnten widmet sich Liselott Enders mit großer, ungebrochener Schaffenskraft der brandenburgischen Landesgeschichte in all ihren Facetten. Waren es anfangs vor allem zahllose Spezialstudien, in denen sie die kleinen Lebenswelten der märkischen Landbewohner seit dem Mittelalter ergründete, so trat sie 1992 mit einer umfassend ausgerichteten Darstellung der Geschichte der Uckermark an die Öffentlichkeit. Es folgte einige Jahre später die Geschichte der Prignitz. Mit der hier anzuzeigenden Betrachtung der altmärkischen Geschichte hat sie nochmals ihren Blick sachlich und räumlich ausgeweitet, um das Lebensgefüge einer großflächigen brandenburgischen Landschaft in der Zeit des Ancien Régime einer tief schürfenden Analyse zu unterziehen.
Auch wenn die Autorin ihre Ausführungen mit einem knappen Überblick über die politische Geschichte der Altmark einleitet, so ist damit in keiner Weise eine wertende Aussage über die Rolle des staatlichen Sektors als einer prägenden Kraft im Formierungsprozess dieser Landschaft getroffen. Im Gegenteil, es schließen sich erst nach einer knappen und präzisen Fixierung des historischen Gesamtrahmens ins Detail gehende Untersuchungen zur ländlichen und städtischen Gesellschaft an, wobei die Autorin auf ihre schier unerschöpfliche Kenntnis archivalischer Quellen stets zurückzugreifen vermag, um die genuine Gestalt und das spezifische Werden dieser Landschaft bis in seine kleinsten dörflichen und städtischen Verästelungen aufzuhellen.
Darüber gehen jedoch Hinweise zur fürstlichen Siedlungspolitik, die hier keine markante Rolle spielte, das Meliorationswesen, die Verbesserung der Straßen um 1800 oder eine verstärkte Kontrolle der Kriminaljustiz seit 1717 sowie die Ausbreitung von Garnisonen in den Landstädten, um nur einige Streiflichter staatlichen Wirkens zu nennen, nicht unter. Aber vor dem Hintergrund anderer lebensbestimmender Faktoren, ob es sich nun um kriegsbedingte Leiden, Seuchenzüge oder Hungersnöte oder die sich in langen Zyklen wandelnde ländliche Agrarordnung handelt, die hier im Gegensatz zu älteren Darstellungen eine angemessene Würdigung erfahren, werden solche, von fürstlicher Seite initiierten Veränderungen auf ein sachlich angemessenes Maß zurückgeschnitten.
Stets werden von der Autorin grundsätzliche Aussagen und speziellere Einblicke in das Sozial- und Wirtschaftsleben miteinander verknüpft, um den Charakter der Altmark zu erfassen. So vermag sie überzeugend aufzuzeigen, wie wenig das lokale Eigenleben der Altmärker in Stadt und Land während der frühen Neuzeit durch die mit geringen personalen Ressourcen ausgestattete landesfürstliche Verwaltung tatsächlich verändert und in eine neue Richtung gedrängt werden konnte. "Verstaatlichung" des Dorfes oder der Stadtgemeinde, wie sie noch in einigen Überblicksdarstellungen aus jüngerer Zeit allzu gern für den Absolutismus aus einer etatistischen Perspektive ohne einen klaren räumlichen Bezug als ein allgemein preußisches Merkmal mit Vorliebe an die Wand gemalt wurde, erweist sich in der lebensweltlich ausgerichteten Perspektive von Liselott Enders als ein wenig hilfreicher Parameter zum historischen Verständnis altständischer Gesellschaftsformationen.
Dies verdeutlichen beispielsweise ihre Ausführungen zum brandenburgischen Siedlungsgefüge, in dem sich auch die verschiedenen Interessenlagen der Landesbewohner wiederspiegeln. Vergleicht man etwa, wie es die Verfasserin macht, unter diesem Aspekt Altmark, Prignitz und Uckermark, so werden markante Unterschiede sichtbar. Geht man von dem Höhepunkt der Wüstungen am Ende des Mittelalters aus, so zeigt sich, dass während der gesamten Frühneuzeit in der Altmark im Vergleich zur Uckermark deutlich geringere Anstrengungen unternommen wurden, neue Dörfer, Kolonien und Vorwerke einzurichten. Auch unterschieden sich beide Regionen auffällig durch den Anteil der gutsfreien Dörfer. Während sich dieser in der Uckermark nur um die 40% bewegte, blieben in der Altmark, allerdings nach Kreisen stark variierend, ca. 70% der Dörfer ohne einen ortsansässigen Gutsherrn. Dieser Umstand hatte maßgebliche Bedeutung für den bäuerlichen Alltag, denn er fixierte den Handlungsspielraum der Landleute bzw. er entschied über die Intensität der sozialen Kontrolle durch die lokale Obrigkeit. Das andersartige bäuerlich-herrschaftliche Sozialgefüge wird auch durch eine weitere Feststellung der Autorin illustriert. Während in der Uckermark um 1800 der Anteil der besitzarmen Bevölkerung bereits auf über 30% geklettert war, bewegte er sich in der Altmark noch unter 20%.
Die Liste solcher fundierter Einsichten ließe sich stattlich erweitern. Sie trifft ebenso auf die städtischen Gemeinwesen zu. Deren Entwicklungspotenzial wurde durch hohe steuerliche Belastungen und behördliche Bevormundung der Kommunen in ökonomischen Fragen stark gehemmt. Bemerkenswert war jedoch mit welcher Energie selbst die kleinsten Landstädte gestützt auf ihre alten Privilegien darum kämpften, sich ihren, wenn auch begrenzten, Gestaltungsraum zu bewahren. Auch dies beschreibt Liselott Enders an zahlreichen Beispielen höchst instruktiv.
Im Gegensatz zu den beiden älteren Darstellungen widmet sich die Autorin in diesem Band auch sehr ausführlich Fragen der materiellen Kultur und den Lebensformen der altmärkischen Bevölkerung. Über einzelne Akzentsetzungen kann man dabei gewiss geteilter Meinung sein, aber erhellend sind die behandelten Themen dennoch. Dies ist abschließend noch einmal besonders ausdrücklich hervorzuheben, da volkskundliche Themen, um heute gängigere und scheinbar wohlklingendere Fremdworte zu vermeiden, für Brandenburg von der Forschung lange Zeit völlig ausgeblendet worden sind.
Mit diesem Werk hat Liselott Enders die brandenburgische Landesgeschichte, auch wenn die Region heute zum Bundesland Sachsen-Anhalt zählt, auf ein grundsolides sozialgeschichtliches Fundament gehoben, an dem sich auch Autoren, die sich mit der derzeit schicken Preußentümelei schmücken, in ihren beliebten Allgemeinplätzen messen lassen müssen. Schließlich gab es dieses Land als staatliche Einheit auch jenseits der Berliner Weichbildgrenzen. Allerdings muss sich jeder Leser diese Einsichten hart erkämpfen, denn eine über 1500 Seiten starke und außergewöhnlich materialreiche Studie muss erst einmal inhaltlich und gedanklich bewältigt werden.
Peter-Michael Hahn