José M. Faraldo / Paulina Gulińska-Jurgiel / Christian Domnitz (Hgg.): Europa im Ostblock. Vorstellungen und Diskurse (1945-1991). Europe in the Eastern Bloc. Imaginations and Discourses (1945-1991) (= Zeithistorische Studien; Bd. 44), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 407 S., ISBN 978-3-412-20029-9, EUR 44,90
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Der Sammelband geht in seinem Kern auf eine gleichnamige Potsdamer Konferenz im Jahr 2005 zurück, die der Schärfung und Arrondierung eines Forschungsprojekts des Zentrums für Zeithistorische Forschung diente (und dessen drei Projektmitarbeiter - Doktoranden - dann auch das Herausgebergremium bilden). Die Konferenzteilnehmer haben ihre Beiträge entweder gründlich überarbeitet oder - wie der Einleitungsessay von Faraldo ausweist - völlig neu geschrieben, so dass die Dokumentation wohl nur noch sehr bedingt den Ablauf der genannten Konferenz wiedergeben dürfte.
Sei ihm wie ihm wolle: das Thema ist spannend, weil hier ein Feld eröffnet wird, das in den überaus zahlreichen Europa-Publikationen der zurückliegenden Jahre und Jahrzehnte absolut unterbelichtet geblieben ist: Wie reagierten die Gesellschaften jenseits des Eisernen Vorhangs auf die Formations- und Europäisierungsprozesse im "Westen", hatten sie überhaupt Möglichkeiten, sich - kritisch, sehnsüchtig - dazu zu artikulieren, wie entwickelte sich im Ostblock jene Spannung zwischen Nationalismus und seinem vermeintlichen Überwinder, dem Bundesstaat Europa? Und weiter: Wie ordnen sich die aktuellen Diskurse seit den 1960er Jahren in längerfristige, vor allem an den Peripherien zu verortende Debatten um Autochthonismus versus Europäismus ein, inwiefern hat "Europa" mit all seinen Implikationen den Kommunismus als Staatsform sowohl erschaffen als auch überwunden?
Viele dieser Fragen setzen eine verlässliche Definition des Raums voraus, um den es überhaupt geht. Wolfgang Schmale geht in grundsätzlicher Weise diesem Problemzusammenhang nach, indem er den Kanon der Grenzziehungen zwischen Ost und West bilanziert und gleichzeitig unter deutlicher Infragestellung des Blockcharakters des "Ostblocks" dem Phänomen Osteuropa nurmehr die Qualität einer historischen Episode zubilligt. Jan Kieniewicz schlägt für den Streifen von Staaten, die sich auf jeden Fall Europa zugehörig fühlten, den Begriff "borderland" vor. Christian Domnitz verweist darauf, dass die tatsächlich propagierten Europavorstellungen jenseits des Eisernen Vorhangs mit dem wirklichen Europa der 1960er und 1970er Jahre wenig zu tun hatten und dass überhaupt keine herrschaftsfreie Debatte um Europa stattgefunden habe, wobei in den Europavorstellungen ostmitteleuropäischer Autoren das Fehlen des föderalen Elements "Europas" besonders auffällig sei.
Weiter zurück geht José M. Faraldo, der aufgrund einer tiefschürfenden Analyse der kommunistischen Europa-Vorstellungen in den mittleren 1940er Jahren konstatiert, dass sie nur auf das Denkschema eines Europas der Nationalstaaten zielten und das Europavokabular durchaus verfremdend rezipiert wurde, etwa im Begriff der "europäischen sozialistischen Länder". Andere Ansätze eines alternativen kommunistischen Europa blieben dagegen stecken. Wie wenig das westliche Europa-Modell auch bei systemkritischen ostmitteleuropäischen Intellektuellen wirklich Resonanz fand, weist Carlos Reijnen an einem besonders aussagekräftigen tschechischen Beispiel nach. Auch Ilja Ehrenburg stieß nicht zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit der übernationalen Idee Europa vor; seine Bilder von Europa waren polemisch-konventionell und zielten einerseits auf eine Ausgrenzung Deutschlands, zum anderen auf die Dankbarkeit, die die europäischen Völker der Sowjetunion schuldeten (Beitrag Jan C. Behrends). Die DDR stellte in Hinsicht auf die Reaktion der sozialistischen Staaten auf den Europäisierungsprozess kaum einen Sonderfall dar; bei ihr war freilich das Contra zu einem der Gründungsländer - der Bundesrepublik - noch ausgeprägter und verband sich mit einem geradezu absurden Sicherheits- und Paritätstrauma, das den Gedanken von einer europäischen Identität, in der die europäischen Nationen allmählich aufgehen würden, gar nicht erst aufkommen ließ. Auch in der DDR-Opposition spielten gesamteuropäische Visionen überhaupt keine Rolle (Beitrag Jana Wüstenhagen).
Auf einige andere Schwerpunkte des Bandes - etwa die Reaktionen europäischer Muslime auf Idee und Konzept Europa oder die Stellungnahmen von Exilgruppen ostmitteleuropäischer Provenienz in und nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Eurovisionen der damaligen Zeit - kann hier nur noch summarisch eingegangen werden. Das leitet aber zu einer Grundsatzfrage über: der nach den Quellen. Man kann - wie etwa Joanna Bar - auf die Presse (in diesem Fall die Krakauer Presse) zurückgreifen, mit, kaum überraschend, eher bescheidenem Erfolg. Man kann die offiziellen oder offiziösen Verlautbarungen abklopfen - im Fall Rumänien (Dragoş Petrescu) auch eher so, dass allenfalls approximative Annäherungen an die Fragestellung möglich sind. Mehr Sinn macht es sicher, sich mit den Unterlagen expliziter Oppositionsgruppierungen zu beschäftigen (Cristina Petrescu). Einige Autoren wählen den Weg, das Œuvre von systemkritischen Literaten auf seine europäischen Bezüge abzuklopfen (Friederike Kind-Kovács). Der Band illustriert indirekt damit aber eben auch, wie schwierig es ist, die Ebene des "Menschen auf der Straße" im damaligen Ostblock zu erreichen: seine Sehnsüchte nach dem neuen Europa, nach dem Ausbrechen aus dem System, nach einer europäischen Welt ohne Grenzen und Beschränkungen. Aber hier wird man wohl nur mit Mitteln der oral history oder mit Ego-Dokumenten weiterkommen, die in dem vorliegenden Band noch keine wesentliche Rolle spielen.
Der Band umfasst neben der Einleitung insgesamt 20 Beiträge, davon acht in englischer Sprache. Eine Auswahlbibliographie ist beigegeben, in der man freilich doch manches vermisst.
Heinz Duchhardt