Roger Chickering: Karl Lamprecht. Das Leben eines deutschen Historikers (1856-1915). Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sabine vom Bruch und Roger Chickering, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, 689 S., 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-09407-8, EUR 89,00
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Der Verfasser der vorliegenden Biografie eines der umstrittensten und streitbarsten deutschen Historiker in dem Vierteljahrhundert zwischen 1890 und 1915 war bis zu seiner Emeritierung 2010 Professor an der Georgetown University in Washington D. C. und ist ein durch viele Bücher ausgewiesener Experte für den Ersten Weltkrieg und dessen kulturelles Umfeld, die auch in Deutschland breite Resonanz gefunden haben. Der englischsprachigen Originalfassung dieses opus magnum von 1993 (Karl Lamprecht: A German Academic Life [1856-1915]) lässt Chickering nun, im Abstand von bald dreißig Jahren, eine deutsche Übersetzung folgen. Das rechtfertigt sich in jeder Hinsicht, nicht zuletzt deswegen, weil die seitdem erschienene (breite) Literatur zu Lamprechts Forschungsansatz und seiner Methodik, seinen Kontroversen und seinem Leipziger Institut in den ursprünglichen Text eingearbeitet wurde. Die Übersetzung ist somit viel mehr als das, sondern ein neues Buch - eine Biografie, um die der Verfasser erkennbar "gerungen" hat und mit der er insofern auf den Spuren des Protagonisten wandelte, als er sich selbst an Lamprechts Ideal einer "histoire totale" versucht hat (22).
Man wird kaum einen deutschen Historiker aus der Wendezeit "um 1900" finden, zu dem die Quellen - eigene und die Dritter - in so reichem Maß fließen wie bei Lamprecht: die (größtenteils inzwischen digitalisierten) Selbstzeugnisse und familiären Dokumente, die Nachlässe Dritter in den herangezogenen 21 Archiven und Bibliotheken, die Akten der Institutionen, an denen Lamprecht tätig war oder mit denen er engere Kontakte unterhielt. Dies und die überaus gründlich und zugleich sensibel herangezogenen Schriften Lamprechts erlaubten es Chickering, eine wirkliche "intellectual biography" zu schreiben, die zugleich ein umfassender Spiegel der Geistes- und Kulturwissenschaften an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist.
Der Lebensweg des Pfarrersohns aus dem kleinstädtischen Jessen in der preußischen Provinz Sachsen schien zunächst nicht darauf hinzudeuten, dass sich bei ihm eine spektakuläre biografische Erfolgsgeschichte mit einer Geschichte weitgehenden Scheiterns kombinieren würde. In einer ob des frühen Tods des Erstgeborenen anhaltend traumatisierten Familie aufgewachsen mit einem Vater, zu dem der Sohn in einem extrem ambivalenten Verhältnis stand, besuchte der im Elternhaus auf das Gymnasium vorbereitete Junge das Wittenberger Gymnasium, das er 1869 mit der wohl berühmtesten Schule in deutschen Landen, der von Schulpforta, tauschte.
Nach dem Abitur schloss sich, wohl besonders befördert vom Rektor seiner Lehranstalt in Schulpforta, das Studium der Geschichte an, das er in Göttingen begann - wo er parallel seinen einjährigen Militärdienst absolvierte - und in Leipzig fortsetzte, wo er 1878 bei dem Nationalökonom Wilhelm Roscher promovierte. Schon im Verlauf des Studiums, das er nach der Promotion noch um ein Semester in München verlängerte, war der herausragende Student ob seiner weit über das Kernfach Geschichte hinausgehenden, in die Philosophie, die Kunstgeschichte, die Sozialwissenschaften und die Nationalökonomie hineinreichenden Interessen aufgefallen. Das war einer "ungebrochenen" Karriere an der und in der Universität freilich zunächst kaum förderlich, so dass Lamprecht sich als Privatlehrer nach Köln verdingte, wo er in Kontakt zu Gustav von Mevissen trat, einer der großen rheinischen Unternehmergestalten, der zur "bedeutendsten emotionalen Bindung" Lamprechts (124) werden sollte und der ihm auch den Weg zur Habilitation in Bonn (1880) planierte.
An der Gründung der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde war Lamprecht aktiv und in vorderster Front beteiligt, in ihrem Forschungsprogramm publizierte er in den frühen 1880er Jahren sein vierbändiges "Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter", das erstmals einen Eindruck von seinem Verständnis von Kulturgeschichte gab, die schon damals in den Geruch der "Oppositionswissenschaft" geriet. Der akademische Aufstieg, behindert auch schon durch eine viele Fragen aufwerfende Ehe und frühe Krankheiten, vollzog sich freilich zäh und ging nur dank seiner Protektion durch Friedrich Althoff, den "Herrscher" über die preußischen Universitäten, langsam voran: eine unbesoldete Professur in Bonn, ein Lehrstuhl im ungeliebten Marburg, schließlich dann 1891 der Wechsel nach Leipzig, einer "Endstationsuniversität".
Über 400 Seiten des Buches sind Leipzig gewidmet: Lamprechts universitärem Umfeld und seiner zunehmenden Isolierung im Historischen Seminar, seiner großen "Deutschen Geschichte", ihrem methodischen Ansatz und ihren gravierenden Schwächen, dem die Zunft aufwühlenden "Methodenstreit", der Gründung und dem Charakter seines Instituts für Kultur- und Universalgeschichte, den Versuchen, über eine Universitätsreform seinen Ansatz von Kulturgeschichte zu verabsolutieren, schließlich seinem Rückzug in die Regionalgeschichte und dem (gleichzeitigen) Entwurf einer Globalgeschichte, zu der es freilich nie kommen sollte. Nicht zuletzt gilt das Augenmerk des Verfassers den merkwürdigen Sprüngen seines politischen Engagements (vom Alldeutschen Verband bis zu Friedensorganisationen) und seinen Versuchen, über den Reichskanzler Bethmann-Hollweg, einen Schulkameraden aus vergangenen Tagen, im Sinn einer kulturpolitischen Offensive des Kaiserreichs politischen Einfluss zu gewinnen.
Lamprecht ist sicher eine Gestalt, die eine große Biografie verdient hat, die nunmehr vorliegt. Er, ein geradezu begnadeter Wissenschaftsorganisator und ein engagierter und begeisternder akademischer Lehrer, war in den Augen des überwiegenden Teils seiner Zunftgenossen ein "enfant terrible" auf gefährlichen Abwegen, ein Mann, von dem man die Zerstörung der Verfassung der deutschen Universität glaubte befürchten zu müssen, der im Gefolge seiner Reisen in Amerika Gedanken nachhing, das dortige Department-System nach Deutschland zu übertragen, der also, einfach formuliert, eine gegebene Ordnung zur Disposition stellte. Er war gegen Ende des Jahrhunderts sicher zum bekanntesten deutschen Historiker nach Ranke aufgestiegen, der einen großen Schülerkreis um sich versammelte, aus dem freilich kaum einer akademisch reüssierte. Und dieser Bedeutung entspricht auch Chickerings Buch: Es ist nicht ohne gewisse Längen und steht auch sprachlich auf einem hohen, durch zahllose anspruchsvolle Fremdworte geprägten Niveau, ist aber klug aufgebaut, hat reflektierte und originelle Kapitelüberschriften, entwirft geradezu ein Panorama der deutschen Gelehrtenwelt vor dem Ersten Weltkrieg und beeindruckt durch seine - psychologisch unterfütterten - Zeichnungen von Charakteren, auch von Lamprechts Gegnern. Besonders eindrucksvoll wird die Leipziger Universität in ihren Strukturen und "Lagern" lebendig, in Lamprechts interdisziplinärem Kreis, aber auch der Gegenfront - gerade diese Kapitel sind ein Lesevergnügen, Aber, wie gesagt, man braucht bei über 600 Seiten Text schon einen längeren Atem...
Noch ein paar Ausstellungen: Die Übersetzung, an der Chickering selbst maßgeblich mitgearbeitet hat, ist im Wesentlichen gut. Hin und wieder werden Substantive benutzt oder gebildet, die wenigstens missverständlich sind ("Ersterscheinung der Biographie": 13; "Verärgerung" statt "Ärgernis": 511; "Erhaltung" des Briefes statt "Erhalt": 592). Unsicherheiten beim Gebrauch der indirekten Rede sind unübersehbar (etwa 327), ab und zu werden die falschen Verben ("verstritten" statt "zerstritten": 137) gewählt. Von gewissen Modernismen ("nichtsdestotrotz": 86; "Nebenplots": 216, 218) haben sich die Übersetzer leider nicht freihalten können. Es ordnet sich einem Übermaß an (vermeintlicher) political correctness ein, wenn durchgehend statt von Straßburg von "Strasbourg" die Rede ist (167, 411). Den Singular "Honoratior" (410, 563 und passim) gibt es im Deutschen nicht, es gibt nur "Honoratioren". Einige Literatur - etwa zu Dove (Stadler), etwa zu Ranke (Henz), etwa zu den Frequenzen deutscher Universitäten (Titze) - wurde übersehen. [1] Aber, ungeachtet dessen, um es zu wiederholen: ein großer Wurf!
Anmerkung:
[1] Peter Stadler / Verena Stadler-Labhart: Die Welt des Alfred Dove. 1844-1916, Zürich 2008; Günter Johannes Henz: Leopold von Ranke in Geschichtsdenken und Forschung, 2 Bde., Berlin 2014; Hartmut Titze: Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten 1830-1945, Göttingen 1995.
Heinz Duchhardt