Heinz Häfner: Ein König wird beseitigt. Ludwig II. von Bayern, München: C.H.Beck 2008, 544 S., 101 Abb., ISBN 978-3-406-56888-6, EUR 38,00
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Ludwig II. rehabilitiert! Und das mehrfach. Rehabilitiert von den Vorwürfen geisteskrank und regierungsunfähig gewesen zu sein und die Regierungsgeschäfte vernachlässigt zu haben. Rehabilitiert nicht von einem Historiker, sondern von Dr. med. Dr. phil. Dr. hc. mult. em. Professor für Psychiatrie der Universität Heidelberg und ehemaliger Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim. Und Schurken gibt es auch, vor allem zwei: Der Onkel Luitpold, der Drahtzieher, der an die Macht kommen wollte, und dann als Prinzregent auch an die Macht kam, und sein Helfer: Professor Dr. Bernhard von Gudden, der Psychiater. (Erst in dritter Linie auch das Ministerium, das vor allem an der Regierung bleiben wollte). V. Gudden hatte einen Vorteil. Er stand in den Diensten des bayerischen Staates. Auswärtige Gutachter, z. B. die damalige psychiatrische Autorität Krafft-Ebbing (Wien), wurden gar nicht erst befragt. V. Gudden hat in vorauseilendem und allzu willfährigem Gehorsam - so Häfner - das vom zukünftigen Regenten befohlene, fatale Gutachten im Wesentlichen allein zu verantworten. Und nur über ein medizinisches Gutachten konnte Ludwig II. vom Königsthron gestoßen und eingesperrt, d. h. "beseitigt" werden, ohne ihn zu ermorden.
Doch: so das Ergebnis von Häfners Untersuchungen: Das Gutachten hält weder den heutigen und nicht einmal den damals allgemein geltenden psychiatrischen Begutachtungskriterien stand. Es ist verfasst gegen alle, alte wie neue, Regeln der ärztlichen Kunst und verstößt gegen jegliches medizinisches Ethos. So hielt v. Gudden es nicht einmal für nötig, Ludwig II. persönlich in Augenschein zu nehmen, auch nicht nötig, die Leibärzte Ludwigs II. zu konsultieren, sondern stützte sich ausschließlich auf schriftliche Unterlagen, die ihm von dritter Seite interessiert zur Verfügung gestellt wurden, d. h. alle für Ludwig II. sprechenden Beobachtungen wurden von vornherein unterdrückt.
Also, so recht der Stoff, aus dem sich die mitunter spekulativen Königslegenden speisen? Mitnichten! Alle Ergebnisse (die nicht in allen Teilen neu sind, Aufsatzvorveröffentlichungen von Häfner, Vorarbeiten z. B. von Merta) sind sorgfältig, gerade zu skrupulös abgesichert, und das gleich zweifach: historisch und medizinisch.
Zur historischen Absicherung: Häfner zieht überaus arbeitsintensiv alle, aber wirklich alle der Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Quellen über Ludwig II. heran. (Das Hausarchiv der Wittelsbacher hatte keine Benutzungserlaubnis gegeben.) Häfner, der primär Psychiater und nicht berufsmäßiger Historiker ist, interpretiert die Quellen geradezu mustergültig und widerlegt gründlich die regierungs-amtliche These von der geistigen Erkrankung Ludwigs II., die bis in die Gegenwart so oft ungeprüft übernommen wurde. Darüber hinaus bettet Häfner Ludwig II. in weite historische Bezüge ein. Das hat Vorteile und Nachteile. Bei den Ausführungen zum Umfeld Ludwigs II. ist manches zu handbuchartig, und Differenzierungen in der Forschung werden da manchmal nicht gänzlich wahrgenommen (z. B. Beurteilungen der Vorgängerkönige). Das ist jedoch verzeihlich. Denn das Thema ist nicht das Umfeld, sondern Ludwig II.
Die Vorteile überwiegen eindeutig: Durch den mitunter weit über die bayerische Landesgeschichte hinausgreifenden Kontext wird das Spezifische an der Königskatastrophe sichtbar. Und auch: dass die ganze Geschichte durchaus anders hätte verlaufen können.
Nur zwei Beispiele, wie Häfner vergleichend und manchmal eben auch recht weit ausholend interpretiert: Ludwig II. ist nicht der einzige Regent, der wegen angeblicher oder vermeintlicher psychischer Erkrankung "beseitigt" wurde. So finden sich bei Häfner auch Ausführungen zu anderen zeitgenössischen Regenten, unter anderen auch zu Sultan Murad V. (1840-1904), dem nach Ludwig II. wohl bedeutendsten Fall der Psychiatrisierung eines Regenten. Oder: Homosexualität allein war damals kein Entmündigungsgrund (im Übrigen damals auch nicht strafbar, den Paragraphen 175 gab es noch nicht). So widmet Häfner König Karl von Württemberg (1823-1891) ein Kapitel, der ebenfalls homosexuell war und auch offen homosexuell lebte und nicht abgesetzt wurde, obwohl es auch da Bestrebungen gab.
Zur medizinischen Absicherung: Trotz der allein schon beachtlichen Verdienste um die historische Aufarbeitung des Quellenmaterials liegen in den genuin medizinischen Ausführungen die noch größeren Verdienste der Arbeit - soweit es ein Nicht-Mediziner konstatieren kann. Der Psychiater Häfner macht nichts anderes als das, was seinerzeit gefehlt hat: ein unabhängiges psychiatrisches Gutachten und wendet die dafür üblichen - zeitgenössischen und heutigen - Kriterien an:
- Familienanamnese: Hohes, übersteigertes und in den Zeiten des 19. Jahrhunderts mitunter anachronistisches königliches Selbstbewusstsein mit neoabsolutistischen Zügen kommt in der Familie der Wittelsbacher öfter vor.
- Krankheiten in Familie: So gut wie keine Hinweise auf eine erbliche Bedingtheit einer Geisteserkrankung in der nahen Verwandtschaft. Der in diesem Zusammenhang oft erwähnte Bruder Ludwigs II. Otto litt an progressiver Paralyse, einer Spätfolge von Syphilis.
- Sektionsbefund: Die Hirnuntersuchung spricht nur für eine frühkindliche Meningitis, die ausgeheilt war und die allenfalls die lebenslangen Kopfschmerzen Ludwigs II. verständlich macht, mehr nicht.
- Jedoch litt Ludwig II. unter sozialer Phobie (Kontaktscheu): Sie verleidete ihm das gesellschaftliche Leben in seiner Hauptstadt gründlich.
- "Nicht stoffgebundene Sucht": nämlich die Bausucht Ludwigs II., und typisch für eine Sucht: selbstschädigend, weil finanziell ruinös, und dann bei Entzug des "Stoffes" tiefe Depression und Selbstmordgefährdetheit.
- Homosexualität: Da war nicht viel zu diagnostizieren. Sie war bekannt: Sie gab Ludwig II. der gesellschaftlichen Verachtung preis, die man ihn bisweilen sehr deutlich spüren ließ und die seine soziale Phobie nur verstärkte. Er zog sich folglich immer mehr auf seine einsamen Schlösser zurück und umgab sich mit Lakaien.
Der schwerwiegendste Makel, allerdings kein psychiatrisch relevanter: Ludwig II., missbrauchte seine Stellung als König, um junge Reitersoldaten für seine sexuellen Bedürfnisse zu rekrutieren, wobei er nicht nur nach heutigem und damaligem Rechtsempfinden (sexuelle Beziehungen mit Abhängigen) gegen Normen verstieß. Die sexuellen Aspekte werden auf der Basis des auch hierzu vorhandenen Quellenmaterials offen - auch in ihrer Drastik - wiedergegeben.
Jedoch machen Homosexualität, gepaart mit sozialer Phobie, einen Monarchen nicht geisteskrank und regierungsunfähig - allenfalls unmöglich in der feinen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.
Häfners Werk ist - anders als so manche Legende - eine historisch stets quellengestützte und medizinisch abgesicherte Studie zu Ludwig II., der gleichermaßen als König und Mensch mit allen seinen Vorzügen und Defiziten historisch beschrieben und psychiatrisch auf der Basis aller verfügbaren Quellen begutachtet wird, auf allen Gebieten immer außerordentlich vorsichtig und abwägend. Anders geht es auch nicht, will man sich dem legendenumrankten Märchenkönig mit einem biographie-ähnlichem Werk wissenschaftlich annähern. So manches Kapitel über Ludwig II., aber auch über den Prinzregenten Luitpold, muss jetzt auf den Stand, den Häfner erreicht hat, gebracht werden.
Manfred Hanisch