Amy Lyford: Surrealist Masculinities. Gender Anxiety and the Aesthetics of Post-World War I Reconstruction in France, Oakland: University of California Press 2007, xiv + 237 S., ISBN 978-0-520-24640-9, GBP 29,95
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Geschlechterkonstruktionen und Sexualpolitik spielten in den ästhetischen Experimenten und theoretischen Reflexionen der Pariser Surrealistengruppe eine zentrale Rolle. Seit den 1980er Jahren ist dies in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Publikationen und Ausstellungen thematisiert und teilweise auch kontrovers diskutiert worden. Dabei standen die Konstruktionen von Weiblichkeit im Vordergrund, während Konzepte des Männlichen - mit sehr wenigen Ausnahmen [1] - kaum behandelt wurden. Der Grund dürfte sein, dass in den visuellen Produktionen der surrealistischen Künstlerinnen und Künstler fast ausnahmslos weibliche Körperbilder verarbeitet werden, sodass sich die einseitige Forschungsperspektive scheinbar naturwüchsig aus dem vorliegenden Material ergibt. Jedoch wissen wir durch die feministische Kunstwissenschaft, dass gerade die Absenz des männlichen Körpers zentrales Element einer patriarchalen Geschlechterkonstruktion ist, deren visuelle Struktur ihrerseits untersuchungswürdig ist. Hinzu kommt, dass von den Fotoporträts der Mitglieder der Surrealistengruppe über Max Ernsts "Loplop" und Yves Tanguys phallische Phantasiewesen bis zu Dalís autobiografischen Manifestationen zahlreiche offene und verborgene visuelle (Selbst-) Repräsentationen surrealistischer Männlichkeit(en) existieren. Eine systematische Untersuchung ist also in jeder Hinsicht überfällig.
Amy Lyfords Monografie basiert auf drei wesentlichen methodischen Prämissen. Erstens kontextualisiert sie ihr Thema mit der historischen Realität von Männlichkeitsidentitäten in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg. Diese sind, wie sie an visuellen und anderen Quellen aufzeigt, geprägt durch Infragestellung und Gebrochenheit - bewirkt durch die Zerstörung der Familienstrukturen und durch die alltägliche Präsenz von Verwundung, Verstümmelung, psychischer Derangiertheit und anderer Zeichen männlichen Dominanzverlusts. Die traditionellen Vorstellungen von Maskulinität und ihrem Platz in der sozialen Ordnung, so Lyfords Ausgangsthese, gerieten durch den Krieg massiv unter Druck. Zwar setzten sogleich konservative Bestrebungen zur Wiederherstellung der alten patriarchalen Geschlechterverhältnisse ein. Doch blieb eine solche "Rückkehr zur sexuellen Ordnung" angesichts der nachhaltigen Auswirkungen des Krieges auf die Individuen lange prekär. In dieser Diskrepanz zwischen offiziell propagiertem Geschlechterbild und realer Brüchigkeit der Geschlechterverhältnisse verortet Lyford die entscheidende Quelle für die deformierenden, zerstörenden und anderweitig manipulativen Experimente der Surrealisten an (vorzugsweise weiblichen) Körperbildern.
Lyfords zweite methodische Prämisse ist ihr Anknüpfen an Rosalind Krauss und Hal Foster, die bereits in den 1980er Jahren die Deformierung weiblicher Körper etwa bei Hans Bellmer als Dekonstruktion traditioneller Genderideologie gedeutet und damit dem feministischen Vorwurf der Misogynie widersprochen haben. [2] Fosters These, wonach die surrealistischen Fotoexperimente als stellvertretend am weiblichen Körper durchexerzierte Reflexionen auf die Erfahrungen realer Destabilisierungen und Transgressionen des männlichen Körpers zu verstehen sind, greift Lyford auf und wendet sie auf Bilder einer deformierten Männlichkeit an. Dass sie solche Bilder gefunden hat, verdankt sich ihrer dritten Prämisse: Sich nicht mit dem bislang bekannten umfangreichen Material zu begnügen, sondern weitere visuelle Quellen zu erschließen. Hierzu gehören zum einen die massiv im öffentlichen Leben präsenten Kriegsversehrten, zum anderen die zahlreichen medizinischen Objekte (Wachsmodelle, Prothesen etc.), mit denen Breton, Aragon und andere führende Surrealisten Umgang hatten. Vor allem zählt dazu eine Fotoserie von André Kertész aus dem Jahr 1929, die verschiedene Varianten versehrter Männlichkeit zeigt, insbesondere Männer mit fehlenden oder verstümmelten Gliedmaßen.
Lyfords Untersuchung von Kertészs kaum bekannter Fotoserie männlicher Körper ist höchst verdienstvoll, weil sie unser Bild der surrealistischen Produktion korrigiert. Zu Recht weist sie darauf hin, dass sowohl die Surrealisten selbst als auch ihre Rezipienten, darunter nicht zuletzt die Kunstwissenschaftlerinnen und Kunstwissenschaftler, dazu tendierten, die Bilder deformierter Frauenkörper bekannt zu machen und diejenigen von Männern im Archiv verschwinden zu lassen. Lyfords Analyse der Fotos mündet in der These, dass diese die durch Gliederverlust beschädigte Männlichkeit nicht allein als Trauma erscheinen ließen, sondern auch ein Moment der Faszination und des Begehrens enthielten. Ende der 1920er Jahre sei das fixierte Männlichkeitsbild tendenziell aufgeweicht worden in Richtung einer Pluralität maskuliner Existenzweisen und hierzu habe die durch den Krieg beschädigte Männlichkeit beigetragen. Dies bleibt allerdings eine Behauptung, die nicht am Bildmaterial belegt wird. Dagegen kann Lyford an Kertészs Fotos verzerrter weiblicher Körper nachweisen, dass deren publizierte Versionen gegenüber den ursprünglichen Fotografien stark beschnitten sind, sodass der Kontext der Verzerrungen der Sichtbarkeit entzogen ist und die Bilder jene voyeuristische Tendenz erhalten, aufgrund derer sie in einem softpornografischen Kontext rezipiert werden konnten.
Beobachtungen wie diese und auch die umfangreiche qualitätsvolle Bebilderung machen Lyfords Buch lesenswert. Allerdings merkt man ihm an, dass es nicht in einem Guss entstanden ist, die Autorin vielmehr über lange Jahre an verschiedenen Aspekten des Themenbereichs "Surrealismus und Geschlecht" gearbeitet hat. Die meisten Kapitel basieren auf älteren Aufsätzen, die hier in erweiterter Form neu veröffentlicht und durch Einleitung und Schlusswort zusammengebunden werden. Die daraus resultierende inhaltliche Inkonsistenz des Buches wird durch seinen vagen Titel notdürftig verschleiert und bei genauerer Betrachtung sogar offenbart. Lyford weist zwar plausibel nach, dass zwischen surrealistischen Männlichkeitsbildern und den Ängsten vor Männlichkeitsverlust in der traumatisierten Nachkriegsgesellschaft ein Zusammenhang besteht, allerdings um den Preis, dass sie ihr Thema - surrealistische Männlichkeitskonzepte - weitgehend auf den Aspekt des Gliederverlustes reduziert. Da sich mit diesem Aspekt keine Monografie bestreiten lässt, sind zwei weitere Kapitel relativ zusammenhanglos hinzugefügt. Sie behandeln Lee Millers und Man Rays Thematisierung von Sexualität in ihren Fotografien sowie die surrealistische Rezeption des Transvestiten Barbette in den 1920er Jahren. Eine konsistente Gesamtargumentation, die diese interessanten Einzeltexte für das Oberthema "surrealist masculinities" fruchtbar machen könnte, fehlt jedoch. Die im Titel suggerierte Pluralität der surrealistischen Männlichkeitskonzepte wird lediglich behauptet, aber nicht argumentativ entwickelt. So oszilliert Lyfords Buch unproduktiv zwischen einer verengenden und einer entgrenzenden Perspektive auf die Männlichkeitsthematik. Zudem nähert sich die Autorin ihrem Gegenstand allzu deduktiv, insofern sie ausgehend von Krauss' und Fosters Thesen ihr Untersuchungsmaterial auswählt. Hier liegt wohl der eigentliche Grund dafür, weshalb das Thema der surrealistischen Männlichkeitskonzepte in die verengte Perspektive von Deformation, Gliederverlust und Angst vor Dominanzverlust einspannt wird.
Eine umfassende Sichtung des ganzen Themenkreises leistet Lyford nicht. Hierfür wären sowohl das Materialkorpus breiter anzulegen als auch andere Aspekte zu berücksichtigen: Etwa die für den Surrealismus zentrale Topik der Androgynie, die subjektkonstituierenden Blickbeziehungen, die Konstruktion von Kunstfiguren, Gewalt und Sadismus, das Unheimliche etc. Dass Lyford diese Aspekte des Männlichkeitsdiskurses nicht einmal erwähnt, befremdet. Spätestens hier erweist es sich als nachteilig, dass sie die deutschsprachige Literatur zum Themenfeld "Surrealismus und Geschlecht" nicht zur Kenntnis genommen hat. [3] Inakzeptabel ist auch, dass Lyford im fünften Kapitel die surrealistische Rezeption des Transvestiten Barbette behandelt, ohne die Forschung zur Androgyniethematik zu berücksichtigen. [4] Das Buch über surrealistische Männlichkeitskonzepte bleibt also ein Desiderat.
Anmerkungen:
[1] Barbara Lange: Entschlossene Revolutionäre. Surrealismus und die Krise hegemonialer Männlichkeit in den 1920er Jahren, in: Kunst, Geschlecht, Politik. Geschlechterentwürfe in der Kunst des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, hg. von Martina Kessel, Frankfurt a.M. 2005, 123-146; Christel Dauster: Das Phallische in der surrealistischen Bildwelt, in: Metamorphosen der Liebe. Kunstwissenschaftliche Studien zu Eros und Geschlecht im Surrealismus, hg. von Verena Krieger, Hamburg 2006, 57-74.
[2] Rosalind E. Krauss: Corpus delicti, in: L'Amour fou. Photography & Surrealism, hgg. von Rosalind E. Krauss / Jane Livingston, New York 1985, 57-100; Hal Foster: L'amour faux, in: Art in America 74 (1986), 116-129; Hal Foster: Armor fou, in: October 56 (1991), 64-97.
[3] Silvia Eiblmayr: Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1993; Pia Müller-Tamm / Katharina Sykora (Hgg.): Puppen, Körper, Automaten. Phantasmen der Moderne, Ausst.-Kat. Düsseldorf 1999; Katharina Sykora: Unheimliche Paarungen. Androidenfaszination und Geschlecht in der Fotografie, Köln 1999.
[4] Geoffrey Hinton: Max Ernst, Les hommes n'en sauront rien, in: Burlington Magazine 117 (1975), 292ff.; Robert Knott: The Myth of the Androgyne, in: Artform Nov. 1975, 38ff.; Whitney Chatwick: Myth in Surrealist Painting 1929-1939, Ann Arbor 1980; Robert Short: Der Androgyn im Surrealismus, in: Androgyn. Sehnsucht nach Vollkommenheit, Ausst.-Kat. Berlin 1986, 144-159; Verena Kuni: Victor Brauner. Der Künstler als Seher, Magier und Alchimist, Frankfurt a.M. 1995.
Verena Krieger